Madame Mathieu, wer wird denn Fußballweltmeister 2018?
Frankreich! (lacht) Zumindest hoffe ich das sehr. Wir haben ein außergewöhnlich gutes Team in diesem Jahr. Das sind echte Champions.
Sie interessieren sich also für Fußball?
Aber ja, sehr sogar. Ich singe jedes Mal vor dem Fernseher die Hymne mit und schaue mir so viele Spiele an wie möglich.
Ihr aktuelles Album heißt „Made In France“. Was mögen Sie abgesehen von Les Bleus sonst noch besonders gern an ihrem Heimatland?
Eigentlich alles. Die Mode, das hervorragende Essen, die Menschen. Frankreich ist ein schönes Land. Natürlich gibt es Sachen, die mich stören, zum Beispiel dass manche Menschen so arm sind, dass sie nicht genug zu essen haben. Das ist nicht gerecht, doch Armut gibt es ja überall auf der Welt. Alles in allem bin ich stolz auf mein Land.
Sie sind selbst in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, wurden als ältestes von 14 Kindern in einer Hütte ohne jeglichen Komfort groß. Ist Luxus heute für Sie normal?
Ich habe mich daran gewöhnt, es angenehm zu haben. Und wenn ich reise, bin ich oft in sehr guten Hotels. Trotzdem bin ich nicht abgestumpft oder gar gleichgültig. Ich weiß noch, wie ich vor vielen, vielen Jahren und noch zu Zeiten der DDR im Friedrichsstadtpalast in Ost-Berlin zu Gast war. Vor meinem Konzert traf ich vor der Halle auf einen jungen, sehr kranken und armen Mann, der mich unbedingt singen sehen wollte. Mein Manager nahm ihn mit in die Halle, wir alle dachten, er würde bald sterben. Doch er ist nicht gestorben. Er lebt immer noch. Oder neulich erst, als ich mit meiner Schwester aus einer Bäckerei kam, saß dort ein junger Bettler. Wir gingen noch einmal zurück in die Bäckerei und kauften ihm ein Sandwich.
Sie gehen also selbst zum Bäcker?
Ja, hin und wieder. Mein Bruder, der in der Nähe von Avignon wohnt, ist Bäcker und Konditor. Zu ihm gehe ich immer, wenn ich in der Provence bei meiner Familie bin. Er backt wunderbare Spezialitäten, zum Beispiel Brot mit Käse und mit Feigen. Es gibt auch Bauern, die ihr eigenes Olivenöl zu ihm bringen. Damit backt er dann Brot – nur für sie. Gerade jetzt um Weihnachten herum machen das viele.
Wie haben Sie Weihnachten denn verbracht?
So wie in jedem Jahr. In der Provence, zusammen mit meinen Geschwistern. Wir waren in der Kirche, zur Messe hatten wir Blumen mitgebracht, da sich die Gemeinde keinen eigenen Blumenschmuck leisten kann. Ich habe einige Weihnachtslieder gesungen, Klassiker wie „Stille Nacht“, natürlich auf Französisch. Anschließend haben wir alle im Haus meiner Mutter zu Abend gegessen.
Ihre Mutter Marcelle-Sophie ist im Frühjahr 2016 im Alter von 94 Jahren gestorben. Feiern Sie so, als wäre sie noch da?
Ja, wir machen alles so, wie Maman es immer gemacht hat. Wir haben eine Krippe, und an Heiligabend gibt es dreizehn Nachspeisen. Die Tradition lebt weiter. Der liebe Gott sagt „Das Herz einer Mutter ist ein Schatz, den es nur einmal gibt“. (wischt sich die Tränen aus den Augen). Wir Kinder waren dabei, als Maman starb. Es ist immer noch sehr, sehr schwer ohne sie. Doch das Leben geht weiter.
Haben Sie alle dreizehn Nachspeisen probiert?
Jeder isst, was er möchte. Man muss nicht alle dreizehn essen (lacht). Das hat symbolischen Wert. Die Geburt Jesu wird mit den Nachspeisen zelebriert.
Sind Sie gläubig?
Ja, das bin ich.
Sie trafen einst Papst Johannes Paul II.
Ein ganz toller Mann. Sehr beeindruckend und warmherzig. Auch Papst Franziskus würde ich sehr gern kennenlernen. Er ist ein moderner Papst, der in der heutigen Zeit lebt und kluge Ansichten vertritt.
Der Papst, Wladimir Putin, Queen Elisabeth – die Liste der Staats- und Würdenträger, auf deren Einladung Sie gesungen haben, ist lang und schillernd. Sie selbst sind nicht minder berühmt. Fühlen Sie sich wohl in ihrer Funktion als Ikone?
Ach, Ikone, ich weiß nicht. Der Papst wird gewählt, die Queen wird schon als Thronfolgerin geboren, aber bei mir ist es anders: ich existiere nur durch und dank meines Publikums. Die Menschen bringen mir seit vielen Jahren so viel Freundlichkeit und Liebe entgegen. Ich habe Fans, die mir durch die ganze Welt nachreisen, wenn ich auf Tournee bin.
Machen die Fans Sie glücklich?
Oh ja, überglücklich. Einige sind längst zu guten Bekannten geworden. So wie die junge Frau Lucy, die sehr früh ein Kind bekommen hat. Ich habe ihr etwas was für das Baby geschenkt, sie kam jetzt mit ihrem Mann zur Show, man fragt dann natürlich, wie es geht und was die Familie macht. Was mich besonders berührt: Viele Fans verwöhnen mich richtig und bringen mir kleine Geschenke mit.
Was denn so?
Blumen oder kleine Schildkröten.
Kleine Schildkröten?
Ja, ich sammele Schildkröten. Selbstverständlich keine echten. Sondern welche aus Glas, Holz oder Porzellan.
Warum gerade Schildkröten?
Ich mag die Schildkröte, seit ich die Fabel von Jean de La Fontaine las, „Der Hase und die Schildkröte“. Die beiden machen ein Rennen. Die Schildkröte ist langsam, doch kommt sie sicher ans Ziel und gewinnt sogar.
Auch Sie sind sehr ausdauernd. Sie nahmen 1964 an einem Gesangswettbewerb in Avignon teil, wurden 1965 in einer TV-Show entdeckt und galten als die neue Edith Piaf. In Deutschland sind Sie seit den frühen Siebzigern ein Star, auch in Ländern wie Russland oder China sind Sie populär. Wie schafft man es, sich fünfzig Jahre an der Spitze zu halten?
Ich war immer fleißig, sehr fleißig sogar. Mein Manager Johnny Stark stand hinter mir, er leitete mich an, viel zu arbeiten. Das war damals genau der richtige Zeitpunkt, als ich rauskam. Ich war zur idealen Zeit am richtigen Ort. Heute ist vieles anders, eine Karriere wie meine wäre so nicht mehr möglich.
Im Zusammenhang mit Ihnen fällt stets das Wort „Disziplin“. Zu Recht?
Ja. Vor allem auf Tournee bin ich sehr diszipliniert. Das muss auch so sein. Ich brauche meine neun bis zehn Stunden Schlaf, ich mache täglich Stimmübungen, vor einer Show gibt es den immer gleichen Ablauf. Ich gehe zur Maskenbildnerin, dann machen wir einen Soundcheck, ich halte mich streng an meinen Rhythmus, weil mir Regelmäßigkeit gut tut.
Auch wenn Sie nicht auf Tournee sind?
Dann bin ich lockerer, Aber richtig frei habe ich selten. Es gibt immer etwas zu tun. Ich überlege gerade, welche Lieder ich in den jeweiligen Ländern singe. In Russland ist das Programm nicht das gleiche wie in Deutschland.
Sie singen auch stets in der Landessprache, sogar in Finnisch oder Japanisch haben Sie sich schon versucht. Sind Sie ein Sprachtalent?
Das gehört für mich dazu. Ich mache das gern, und die Menschen mögen es und finden es berührend, wenn man in ihrer Sprache singt. In der Schule war ich die Schlechteste. Ich saß ganz hinten, habe eine Klasse wiederholt und bin mit 15 von der Schule gegangen, um in einer Fabrik zu arbeiten. Lesen und schreiben waren nie meine Stärken, aber das Singen, das habe ich immer geliebt.
Welche Sprache ist die Schönste?
Alle Sprachen sind schön. Natürlich könnte ich jetzt sagen „Französisch natürlich“, und die meisten Menschen denken wohl, dass man in keiner Sprache besser über die Liebe singen kann als im Französischen. Aber auf Deutsch finde ich Liebeslieder genauso wundervoll.
Sie singen in allen erdenklichen Sprachen über die Liebe, doch haben Sie selbst die Liebe nie gefunden.
Woher wollen Sie das wissen?
So heißt es.
Wer weiß schon, ob ich nicht doch verliebt bin oder die Liebe meines Lebens längst gefunden habe? Ich verrate es nur nicht.
Falls Sie nicht liiert sind – könnten Sie sich vorstellen, heute Nachmittag auf der Straße die große Liebe kennenzulernen, oder haben Sie der Romantik zugunsten der Karriere für alle Zeiten abgeschworen?
Aber ja, natürlich bin ich offen, jemanden kennenzulernen. Wieso denn auch nicht?
Obwohl Sie seit ewigen Zeiten eine Berühmtheit sind, weiß man bemerkenswert wenig über Sie.
So mag ich es. Ich behalte meine kleinen und großen Geheimnisse gerne für mich.
Hatten Sie eigentlich nie den Wunsch, auszubrechen, etwas ganz anderes zu machen?
Nein, niemals. Ich brauche auch nicht viel Urlaub. Aber einmal im Jahr nehme ich mir eine kleine Auszeit.
Was machen Sie dann?
Meine Schwester Matite und ich, wir fahren einmal im Jahr nach Biarritz und machen dort eine Thalasso-Therapie. Das Meerwasser und die Luft dort tun mir sehr gut. Für den Geist und den Körper, ja für das ganze Wohlbefinden, ist das herrlich. Normalerweise gehe ich nicht viel spazieren, aber in Biarritz schon. Und anschließend fahren wir fast immer nach Lourdes, dem Wallfahrtsort.
Sie leben mit ihrer Schwester auch zusammen. Kochen Sie selbst?
Das macht meine Schwester. Ich helfe. Den Knoblauch oder das Gemüse schneiden, das sind meine Aufgaben. Als Kind habe ich meiner Maman schon viel in der Küche geholfen, ich habe oft das Geschirr gespült. Kochen war nie meine Spezialität. Die Schwester, die bis zum Schluss bei meiner Mutter gelebt hat, die kann am besten von uns allen kochen. Sie hat Maman versorgt, als sie wegen der Arthrose in ihren Händen Hilfe brauchte. Meine Mutter hat so lange es ging die Karotten geschält. Und stets hat sie beim Kochen gesungen.
Haben Sie ihre Stimme von der Mutter?
Eher vom Vater. Er war Steinmetz und hatte eine kräftige Tenorstimme. Meine Mutter war ein Arbeitstier, von ihr habe ich meine Unermüdlichkeit.
Was ist das Wichtigste für Sie im Leben?
Meine Familie. Gerade jetzt, da meine Mutter nicht mehr lebt. Natürlich leben wir alle eigenständig, aber ich bin halt die Älteste und habe so ein bisschen Mamans Funktion übernommen. Ich habe mehr Verantwortung übernommen und kümmere mich. Einer meiner Brüder ist nach Mutters Tod krank geworden, bei ihm bin ich besonders engagiert.
Zu ihren liebsten Liedern gehört auch „Non, Je Ne Regrette Rien“. Bereuen auch Sie nichts?
Ja, dieses große Lied ist mein Kredo. Ich würde alles noch einmal so machen, auch wenn es immer Höhen und Tiefen gibt im Leben und nicht alles gelingt. Aber das ist auch nicht realistisch.
Wie haben Sie sich verändert im Laufe der Jahrzehnte?
Gar nicht so sehr. Mein Manager und meine Gesangslehrerin Janine Reiss, die auch die Lehrerin von Maria Callas war, haben wir zu Anfang sehr, sehr viel beigebracht und mir eine Menge Selbstvertrauen gegeben. Ich habe zu dieser Zeit wirklich 24 Stunden am Tag geackert. Heute bin ich reifer, doch je mehr ich mich entwickelte in meinem Beruf, desto mehr Lampenfieber habe ich auch.
Das geht also nie weg?
Bei mir nicht. Drei bis vier Stunden vor jedem Auftritt geht die Nervosität los.
Ihr Aussehen, ihre schwarze Kleidung, die Frisur – das ist alles zeitlos und seit fünfzig Jahren praktisch unverändert. Kolleginnen wie Madonna oder Lady Gaga kommen hingegen alle ein, zwei Jahre mit neuem Aussehen und neuem Image. Wollten Sie nie eine solche Veränderung?
Nein, wozu denn? Jeder soll machen, was er will. Lady Gaga ist phantastisch, wir haben uns in Paris bei der Aufzeichnung zu einer TV-Show kennengelernt und mögen uns sehr. Was sie macht, ist großartig. Aber ich mochte mein Image und meinen Look, ich habe das Äußere immer gerne beibehalten. Ich bin so, wie ich bin. Manche lieben es, wie ich singe und angezogen bin, andere lieben es nicht. Doch ich stehe dazu. Ich bin authentisch.
Wir sitzen in einem Hotel direkt gegenüber vom Élysée-Palast. Wie finden Sie Emmanuel Macron?
Nun, er ist mein Präsident. Ich respektiere ihn, die Franzosen haben ihn gewählt. Er hat viel Arbeit, es ist nicht leicht für ihn. Mal schauen. Er hat noch einiges an Altlasten abzuarbeiten.
Im April werden Sie wieder im Friedrichstadtpalast singen, dem Ort ihres ersten Deutschlandkonzerts. Sie waren im Osten wie im Westen Deutschlands gleichermaßen populär, oder?
Ja. Für mich hat es die Teilung Deutschlands nie gegeben. Es ist wunderbar, dass das Land wieder vereinigt ist. Als die Mauer fiel, war das ein großer Tag für mich. Ich kann mich noch erinnern, wie ich meine erste Single in Deutschland in einem Studio direkt neben dieser schrecklichen Mauer aufnahm. Ich habe immer daran geglaubt, dass Deutschland wieder zusammenfindet.
Werden Sie ihr Leben lang weitersingen?
Ja. Ich singe so lange, wie der liebe Gott es will.
Mireille Mathieu auf Tour
Die französische Sängerin macht auf ihrer Welttournee am 30. April um 20 Uhr im Deutschen Theater in München Station. Karten gibt es im Ticketshop unserer Zeitung.