Veranstaltungstipps Tocotronic: "Erfolg ist eine relative Größe"

Das Gespräch führte Olaf Neumann
 Foto: Michael Petersohn

Tocotronic macht seit 25 Jahren erfolgreichen deutschen Indierock. Auch heute noch lebt die Hamburger Band das kreative Chaos. Wir sprachen mit Sänger Dirk von Lowtzow.

 
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Ich komme gerade von einem Interview mit Nena. Beim Stichwort Tocotronic sagte der Popstar: „Indierocker wollen keinen Erfolg“. Ist das wahr?
Erfolg ist eine relative Größe. Uns gibt es jetzt seit 25 Jahren und wir konnten in der Zeit immer genau die Musik machen, die wir wollten. Das ist für mich ein sehr großer Erfolg.

Sind Sie in den vergangenen 25 Jahren wirklich keinen einzigen Kompromiss eingegangen?
Jedenfalls keinen Nennenswerten. Wir sind ein Kollektiv. Wir haben vielleicht mal eine Strophe gekürzt für einen Radioedit, aber nichts Spektakuläres. Man kann vielleicht noch mehr kommerziellen Erfolg haben, wenn man sich in eine bestimmte Richtung begibt oder künstlerische Kompromisse eingeht, aber das kam für uns nie infrage. Das ist vielleicht auch das, was Nena meint. Und sie hat da bestimmt ganz andere Erfahrungen gemacht. Wir sind in den letzten 15 Jahren variantenreicher geworden, weil wir viel mehr Musik entdeckt haben als in unserer Anfangsphase. Damals spielten wir eher laut als leise, eher ungestüm und krachig als raffiniert. Natürlich erweitert man seinen musikalischen Kosmos, wenn man älter wird.

Sie haben erstmals in Ihrer Karriere autobiografische Songs geschrieben. Sind Sie in der Midlife-Crisis angekommen?
Das ist dem Wunsch nach künstlerischer Veränderung geschuldet. Wir haben das in der Vergangenheit immer wieder getan. „Die Unendlichkeit“ ist unser 12. Album in 25 Jahren. Es muss für einen selber spannend sein. Dazu gehört, dass man Positionen, die man vor acht Jahren hatte, einer Revision unterzieht. Der Maler Francis Picabia sagte: „Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann“. Für Künstlerinnen und Künstler ist es ganz wichtig, dass sie nicht auf einem Status quo feststehen bleiben. Was das autobiografische Schreiben anbelangt, hatte ich das Gefühl, jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt dafür. Ich bin nicht unmittelbar von der Midlifecrisis betroffen, aber es hat sicher auch etwas mit dem Alter zu tun. Mit 35 wäre ich noch zu nah an bestimmten Sachen dran gewesen.

Wie heftig war der Gegenwind in Ihrer Jugend in Offenburg?
Den Gegenwind habe ich in gewisser Hinsicht auch provoziert. Ich war anders als meine männlichen Altersgenossen, weil ich mich sehr stark mit Rockmusikerinnen und Rockmusikern identifizierte. Ich war kein Fußballfan. Mitte der 80er Jahre war New Romantic sehr populär, dazu gehörte eine androgyne Erscheinung inklusive gefärbter Haare. Das erregte Aufsehen in einer Kleinstadt wie Offenburg. Meistens sind diese Beleidigungen leider homophob. Schwuler oder Schwuchtel sind auch heute auf Schulhöfen noch Schimpfwörter. Natürlich war man da einer Bedrohung ausgesetzt. Der Song „Hey Du“ ist in gewisser Hinsicht nostalgisch. Aber das Gefühl, angeglotzt und beleidigt zu werden, kennen junge Leute von heute genauso, die nicht ins Bild passen.

Mit welcher Platte hatten Sie Ihr Erweckungserlebnis?
Mit 14 hörte ich „Raw Power“ von Iggy & The Stooges. Als ich anfing, Gitarre zu spielen, fand ich diese punkige Energie und Einfachheit faszinierend. Iggy Pop war ein ambivalentes Wesen. Allein sein Foto auf dem Cover ist total effiminiert und sexuell gefährlich. Dieser Mann konnte einem Angst machen, aber auch faszinieren. Die Art, wie er Performancekunst in diese Musik integrierte, war sehr theatralisch. Er stilisierte sich selber zu einem Kunstobjekt, was wiederum mit Selbstvernichtung einher ging. Wenn man in einem Reihenhaus in einer Kleinstadt aufwächst und solch ein Cover sieht, bringt das etwas ungemein Gefährliches an einen ran.

Mit welchen Bands wurden Sie sonst noch sozialisiert?
Mit The Gun Club. Deren Sänger Jeffrey Lee Pierce sang ungemein verletzlich, aggressiv, höhnisch und überheblich. Dieser Tonfall allein! Und dann diese Erscheinung mit den blond gefärbten Haaren! Fast ein bisschen tuckig, aber total aggressiv. Schon am Cover konnte man sehen: das ist gefährlich.

War der Rock’n'Roll für Sie das Ticket in ein anderes, befreites Leben?
Eher in ein Traumleben. Diese Welt jenseits der binären Konstruktionen von Mann/Frau fand natürlich nicht statt in dem Reihenhauskeller, in dem ich meine E-Gitarre hatte. Aber in meinen Träumen. Sehr prägend waren für mich sexuell ambivalente Künstler wie eben Iggy Pop, Jeffrey Lee Pierce oder David Bowie. So wollte auch ich sein. An ihnen merkte man, es gibt auch in punkto Geschlechtlichkeit ein transgressives Moment. Bei einem jugendlichen Metalfan wäre das sicher anders gewesen, obwohl es da auch Bands wie Hanoi Rocks oder Mötley Crüe gab.

Sind Sie schnell auf gleichgesinnte Menschen getroffen, als Sie 1992 nach Hamburg gingen?
1993 lernte ich Jan und Arne kennen, die in Hamburg aufgewachsen sind. Das war insofern beglückend, weil wir kurz danach die Band gründeten. Dann ging alles relativ schnell. Meine Träume hätten vielleicht nur genau zu diesem Zeitpunkt so in Erfüllung gehen können. Hamburg war damals eine enorm wichtige Stadt für deutschsprachige Rockmusik. Für mich als Nachzügler war es extrem faszinierend, solche Bands wie Blumfeld, die Sterne oder Kolossale Jugend in real kennen zu lernen. Man hatte das Gefühl, hier findet etwas statt, hier gibt es einen Austausch, eine Solidarität, eine Ideologie.

Ein Song in dem neuen Album heißt „Electric Guitar“. Wann bekamen Sie Ihre erste Gitarre?
1983 oder 84. Ich begann, erste Songs zu entwickeln, die wie Nick Cave, The Gun Club, The Jesus & Mary Chain, Dinosaur Jr oder Black Flag klingen sollten. Gesungen habe ich in einem Fantasie-Englisch. Ich fing an, Platten nach Labels wie SST, Homestead, Amphetamine Reptile, Creation oder Factory Records zu sammeln. In Hamburg hatte ich später das Gefühl, dass es dort eine Szene gab, die nach Labels aufgebaut war, die einen kuratierten Anspruch hatten. Dort gab es What’s So Funny About oder L’age d’Or, wo wir dann untergekommen sind.

Hatten Sie von Anfang an eine Vision von der Musik, die Sie mit Tocotronic machen wollten?
Wir sind postmoderner sozialisiert worden, weil wir etwas jünger waren als die meisten anderen Hamburger Bands. Wir hatten schon damals das Gefühl, es gibt gar keine wirklich eigene, neue musikalische Sprache mehr. Mit Grunge war die letzte der authentischen Jugendkulturen in den Mainstream eingesickert und durch Kurt Cobains Tod zu Grunde gegangen. Wir waren uns bewusst, dass wir auf einer Metaebene Musik machen müssen, um interessant zu sein. Zum Beispiel, indem wir Musik übers Musikmachen gespielt haben. Oder indem wir versuchten, Posen zu imitieren, ja fast zu parodieren. Natürlich kam vieles, was wir damals sagten, aus tiefstem Herzen, aber wir wussten, dass alles vorher schon mal da gewesen war. Deshalb bauten wir ein ironisches Scharnier ein.

Inwieweit haben Sie in Hamburg den Rock’n‚Roll wirklich gelebt?
Das wäre ja Teil dieser authentischen Rockkultur gewesen, von der wir wussten, dass sie eigentlich schon Fake ist. Aber nachdem wir die ersten Platten und Touren gemacht hatten, habe ich teilweise schon sehr viel getrunken. Um dem Druck stand zu halten und um mir Mut zu machen. Das ist für Rockmusikerinnen und Rockmusiker nichts außergewöhnliches. Und Hamburg ist eine Stadt, in der sehr viel getrunken wird, gerade auf dem Kiez. Während in Berlin neue Formen der Ekstase ausprobiert wurden, gab es in Hamburg noch sehr lange Kaschemmen mit bezeichnenden Namen wie Gun Club oder den Goldenen Handschuh. Wir waren Hausband in Heinz Kramers Tanzcafé in einem Abrisshaus in der Budapester Straße. Dort fanden regelmäßig Trinkexzesse statt.

Wann haben Sie das erste Mal ein Hotelzimmer zerstört oder einen Fernseher aus dem Fenster geworfen?
Das haben wir nie gemacht! Wir haben immer nur Kopfkissen aus dem Fenster geschmissen, um die Nachbarn zu schonen. Das fällt weich und macht keinen Krach. Aber Ärger kriegt man trotzdem am nächsten Tag.

Hat der Umzug nach Berlin Sie vor einem traurigen Rockstarschicksal bewahrt?
Ja, er hat mich gerettet, weil ich das Gefühl hatte, das ist noch mal ein neues Leben in einer anderen Stadt und in anderen Zusammenhängen. So sehr Hamburg die Erfüllung meiner Träume war, so sehr hatte es sich für mich totgelaufen. Ich fühlte mich dort manchmal mit mir selber allein gelassen. Gegen Ende der 90er Jahre begann Hamburg, sich zu verändern. Vieles von dieser Welt, wie ich sie anfangs kennengelernt hatte, gab es da schon nicht mehr. Der Kiez wurde langsam umgestaltet zu einer rein touristischen Eventmeile. Es gibt bestimmt immer noch undergroundige Orte, aber ich hatte das Gefühl, ein bisschen festzusteckn. Berlin machte dann noch einmal eine ganz andere Tür auf.

Ist Berlin für Sie immer noch ein inspirierender Ort?
Berlin hat mich durch die Nuller Jahre gerettet, weil es ein enorm inspirierender Ort war. Als Band spielten wir sehr oft an der Volksbühne, die eine wichtige Funktion für Berlin-Mitte hatte. Da ist jetzt auch eine Veränderung eingetreten. Man merkt deutlich, dass Berlin an kultureller Relevanz verloren hat. Teilweise ist das nicht nachvollziehbaren politischen Entscheidungen geschuldet.

Tocotronic auf Tour

Die Indierock-Band geht auf „Die Unendlichkeit live 2018“-Tour und gastiert am 9. März um 20 Uhr im E-Werk in Erlangen. Karten für das Konzert gibt es im Ticketshop unserer Zeitung.

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