Coburg - „Mein Land ist ein großer Friedhof.“ Mit diesen Worten hat Aklilu sich vorgestellt. Er ist sofort auf mich zugekommen, als er gehört hat, dass ich Flüchtlinge suche, die bereit sind, über sich und ihre Geschichte zu sprechen. Nun sitzen wir im Gemeinschaftsraum einer Wohnung am Stadtrand von Coburg, wo Aklilu mit seiner Frau Ababa, dem sieben Monate alten Töchterchen und zwei weiteren Paaren in einer Dreizimmerwohnung lebt.

Sie stammen alle aus Eritrea. Ein Land, von dem ich, wie ich zugeben muss, nur eine vage Vorstellung habe. Dabei gehörten in den Achtzigern zwei eritreische Unabhängigkeitskämpfer zu meinem Bekanntenkreis. Sie waren als Verwundete nach Deutschland gelangt und warteten nur darauf, wieder in den Krieg zurückkehren zu können. Eines Tages waren sie weg. Etwa um diese Zeit wurde Aklilu geboren, 1987 in einem Flüchtlingslager im Westsudan. Als 1991 Eritreas dreißigjähriger Krieg endlich beendet und die Freiheit, wie man so sagt, „erkämpft worden war“, ist Aklilus Familie sofort nach Eritrea zurückgekehrt. Und nun? „Ein großes Gefängnis ist mein Land“, sagt Aklilu.

Nach der Schulzeit ist er sofort zum Militär eingezogen worden. Und dort wäre er bis an sein Lebensende geblieben, wenn er nicht geflohen wäre.
Ich kann das nicht auf Anhieb begreifen. Ich habe mir dieses Gespräch anders vorgestellt. Ich wollte Flüchtlinge nach dem Alltag in ihrem Heimatland befragen. Nach ihrem, sozusagen, normalen Leben. Nach Plänen, individuellen Lebensentwürfen, die welche Katastrophe auch immer zerstört hat. Aber in Eritrea gibt es nur einen Lebensplan: raus.
Oder man verbringt sein Leben im Militär. Es gibt nur das Militär. Aklilus ganze Familie ist im Militär. Sein Vater, sein Bruder, seine Schwester. Aklilus Vater ist 65. „Aber man kommt ins Militär, und dann kommt man nie mehr heraus.“
Ich verstehe es nicht. Ich frage immer wieder nach. Es können doch nicht alle im Militär sein? Jemand muss doch auch Lehrer werden, oder Arzt? Ja, sagt er. Sicher. „Arranged by military“. Das Militär bestimmt alles, und bestimmt willkürlich. „Ein Mann kommt, ein Politik-Mann, der sagt: Du wirst Lehrer. Du wirst Arzt. Dann bist du Lehrer. Du bist Arzt. Aber keine Bezahlung. Niemand bekommt Bezahlung. Du bist im Militär. Oder ein Politik-Mann, ein Militärmann kommt und sagt: Töte diese drei Leute. Ich will die nicht töten. Dann, ein paar Tage, ein paar Wochen später kommt einer. Der tötet mich.“

Aklilu spricht mal englisch, mal deutsch. Er spricht ruhig, selbstbeherrscht, aber eindringlich. Er sieht mich an, während er spricht. Wenn er etwas sagt, was ihm besonders nahe geht, wechselt nur der Ausdruck seiner Augen. Dann nicken die anderen beiden bedächtig, ja, ja, genau so ist es gewesen.
Wie ein Science-Fiction-Film erscheint es mir.

„Im Militär bekommst du nichts. Kein Essen. Kein Trinken. Einmal so ein kleines Brot vielleicht. So ein bisschen Wasser.“ Und wo schläft man? In Baracken? „No no no no no!“ Aklilus Stimme klimmt in die Höhe, fast lacht er. Auch die anderen werden nun lebhaft. Sie machen Einwürfe, sie bestätigen einander. „Auf dem Feld schläfst du. Um das Feld sind Wachen. Da kannst du schlafen. Der Boden ist heiß, sehr heiß. 45 Grad. Und keine Decke. Keine gute Kleidung. Nichts. Dann gehen Leute tot. Jeden Morgen zehn, zwanzig Leute tot. Sie –“

Sie versuchen das Wort zu finden. Hitzetod? Hitzschlag? „Kein Bett, kein Essen, kein Trinken. Und Angst. Ein falscher Satz, dein Leben ist weg. Zum Beispiel: Dies ist mein Freund. Ich sage zu ihm: Ich habe kein Brot. Nachts kommen sie. Sie holen meinen Freund. Wenn ich frage: Wo ist mein Freund? Dann holen sie mich. Arme und Beine werden zusammengebunden. Dann in die Sonne. Vielleicht 24 Stunden. Oder gleich tot. Oder Gefängnis. Kein normales Gefängnis. Im Boden, unter der Erde. Kein Essen, kein Trinken, keine Luft. Nur so ein kleines Loch nach oben.“ Aklilu sieht mich an. „Mein Deutsch ist schlecht“, sagt er. „Sie müssen deutsche Worte finden. Gute deutsche Worte. Ich hoffe, Sie können das.“

Ich auch. Ich frage: Wie werden die Frauen in Eritrea schwanger? Wenn sie ihre Männer niemals zu sehen kriegen? Aklilu nickt. „Dieser Mann“, sagt er und deutet auf einen der anderen beiden, dessen Gesicht ausgemergelt ist, straff gespannt, als wäre zwischen Haut und Schädel kein Fleisch, „dieser Mann: vier Kinder. Zwanzig Jahre Militär. Wenn du ein Kind für deine Frau brauchst, kannst du einen Antrag stellen. An Militär-Mann. Dann darf sie kommen, sie darf bleiben, eine Woche, zwei Wochen.“ Aber wo denn? Auf dem Feld? Inmitten all der Männer? „Ja. Ja.“

Urlaub vom Militär gibt es nur alle drei bis vier Jahre. Dann darf man für 45 Tage nach Hause. Das ist die Gelegenheit zur Flucht. Alle hier haben sie ergriffen. An der Grenze, sagt Aklilu, wachen oft Kindersoldaten, Neun-, Zehnjährige. „Die wissen nichts. Du musst eine kleine Lücke finden. Dann rennen. Wenn sie dich sehen, schießen sie. Sie schlagen dich auf den Kopf. Die denken, ein gutes Militär ist, wenn viele sterben.“
Aklilu hat Glück gehabt. Sieben Tage ist er gelaufen, dann hatte er den Sudan erreicht. Dort hat er drei Jahre lang gelebt, immer auf der Suche nach Arbeit, um Geld für die Flucht zu verdienen. Drei Monate davon war er im Shagarab-Camp, das besonders berüchtigt ist. Aber auch die übrigen Flüchtlingslager im Sudan sind nicht bewacht. Häufig werden Flüchtlinge entführt, in den Sinai verschleppt und an ägyptische Beduinen verkauft, die Lösegeld von Mitgliedern der eritreischen Diaspora zu erpressen suchen. 20 000 Dollar. 30 000 Dollar. Um die Zahler gefügig zu machen, werden die Gefangenen gefoltert. Die Bilder werden ins Netz gestellt, per SMS versendet, die Schreie per Telefon Verwandten im Ausland vorgespielt, live.

Am Rand von Coburg zücken Aklilu und die anderen nun ihre Handys. „Look.“ – „Look.“ Ablehnen kann ich nicht. Auf einem Bild sieht man aneinandergekettete Menschen im Staub. Sie halten die Hände vor die Augen. Sie pressen Fäuste an den Mund. Vor ihnen sitzt einer mit einer Zange und reißt ihnen die Fußnägel heraus. Auf einem anderen Bild liegt ein Mann auf der Seite, nackt bis auf die Unterhose, über den Rippen hat er große Wunden. Sein Gesicht ist das Gesicht des Mannes, der mir das Handy entgegenhält. „Du“, sage ich und will, dass er nein sagt. „Ja“, sagt er.
„This“, sagt Aklilu und deutet auf das Foto, „is Lybia. Lybia bad.“
„Lybia-Leute keine Menschen“, sagt ein anderer.
„Lybia people animal.“

Vom Sudan aus bringen Schlepper die Flüchtlinge an die lybische Grenze. Dort setzen sie sie in der Wüste aus, oft mit kaum mehr Proviant als Wasser und etwas Saft. Nach einem, manchmal zwei Monaten kommen die Lybier. Sie kommen mit einem Auto, und mit Maschinengewehren. Sie zählen die Überlebenden. Wenn es mehr sind, als ins Auto passen, bringen sie die Überzähligen um. „Sie nehmen dreizehn und töten zehn. Sie nehmen zwanzig und töten drei. Dann in Lybien wollen sie mehr Geld. Oder sie töten dich. Oder sie zünden Plastik an.“ Schmelzendes Plastik: Das hat die Wunde verursacht, die ich auf dem Handy gesehen habe.
„Ich hoffe, Sie finden eine gute, deutsche Sprache dafür“, sagt Aklilu. „Ich hoffe, man kann gute, deutsche Worte finden.“

Fünf Jahre hat Aklilus Flucht gedauert. Er und seine Frau Ababa sind nicht gemeinsam geflohen. Zwei aus einer Familie fliehen nie gemeinsam. Das erhöht die Chancen, dass einer überlebt. Ababa war sechzehn, als sie aufgebrochen ist. Ich frage, wie sie einander kennen gelernt haben. Was erwarte ich, eine Liebesgeschichte? Sie verstehen meine Frage nicht. Sie stammen aus derselben Gegend, sie kennen einander schon immer. Bei ihnen, sagt Aklilu fast entschuldigend, ist es üblich für ein Mädchen, mit fünfzehn verheiratet zu sein. „Sonst muss sie zum Militär.“
Also, sie war fünfzehn und Aklilu zweiundzwanzig. Oder? Vielleicht war sie erst vierzehn. Sie überlegen.
„Ich weiß nicht“, sagt Aklilu, und sein Blick schweift ab. „Wenn ich sehe, was für ein großer Tag die Hochzeit hier ist … und auch für Leute mit einer anderen Heimat. Aber bei uns ist es kein großer Tag. Man unterschreibt in der Kirche.“

Von Ziel zu Ziel ist er vorausgefahren, hat gewartet, sie ist nachgekommen. Einundzwanzig Jahre alt ist sie nun. Gelassen, eigentlich ganz heiter steht sie da, mit dem Baby auf dem Arm, und tippt auf ihr Handy. Da, das überfüllte Boot. Die Kinder in der Mitte. Am Rand die Männer. Der Seegang bis zur Reling. Sie war auf dieser Überfahrt schwanger. Ich denke an meine Tochter, die ein Jahr älter ist. Ababas Mutter ist in Eritrea geblieben.
Die Alten bleiben zurück, sagt Aklilu, um in der Heimat begraben zu werden. „Meine Mama sagt zu mir: Geh raus, geh raus.“ Die Jungen verlassen alle das Land.
Die Familienmitglieder Aklilus und der anderen, mit denen ich hier in diesem Raum sitze: Sie alle sind irgendwo unterwegs, im Sudan, in Lybien, in Italien, sie alle befinden sich an irgendeinem Punkt der Strecke, auf der Aklilu und Ababa nach Deutschland gekommen sind.

Die Ankömmlinge sind ungeduldig. So viel von ihrem Leben ist bereits vorbei. Sie wollen endlich loslegen, Deutsch lernen, auf Schulen gehen, arbeiten. Es hat so lange gedauert, dieses Land zu erreichen, und nun dauert es immer noch, ein Jahr, eineinhalb Jahre, bis man hat, was man braucht. Aufenthaltsgenehmigung. Arbeitserlaubnis. Papier. Gewissheit. Bei den Syrern geht es schneller, aber das, beeilt Aklilu sich zu versichern, versteht er, freilich versteht er, es ist eine andere Situation.
Im Moment bemüht er sich vor allem, sein Deutsch zu verbessern. Und er hat einen Ein-Euro-Job im Altenheim.

„Ich habe gesagt, ich bin 28“, sagt er zu mir, als ich gehe. „Aber das ist nicht mein Alter. Mein Alter ist zehn Monate. Da bin ich nach Deutschland gekommen. Geboren bin ich an dem Tag, als ich nach Deutschland gekommen bin.“

Die Autorin Sabine Friedrich

Vertreibung und Flucht sind seit jeher Themen der Coburger Autorin Sabine Friedrich. Schon ihr zwischen 2002 und 2004 entstandener Roman „Familiensilber“ (dtv 2005), der das Schicksal eines afrikanischen Flüchtlings in Spanien mit dem einer aus Danzig stammenden Familie verschränkt, endete beinahe prophetisch mit einem Flüchtlingsstrom ähnlich dem, wie wir ihn heute tatsächlich erleben. Die 1958 in Coburg geborene promovierte Germanistin hat in München studiert, nach längeren Wander- und Reisejahren lebt sie seit 1996 wieder in ihrer Heimatstadt. Zuletzt hat sie 2012 bei dtv ihren viel beachteten Roman über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus vorgelegt, „Wer wir sind“. Für die Neue Presse hat sie in fünf sehr persönlichen Portraits den Lebensweg von Männern und Frauen nachgezeichnet, die nach Deutschland geflüchtet und in Coburg angekommen sind.