Mit „gesunder Zuversicht“ geht der Coburger Rechtsanwalt Martin Jensch in die Verhandlung. Es ist ein Prozess David gegen Goliath. Seine Mandantin Felicitas Rohrer klagt gegen den Leverkusener Pharma- und Chemiekonzern Bayer. Sie macht Gesundheitsschäden infolge der Einnahme der Antibabypille „Yasminelle“ geltend und fordert Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von 200 000 Euro. Der Vorwurf: Pillen der sogenannten „vierten Generation“ mit dem Wirkstoff Drospirenon würden ein deutlich höheres Risiko für Thrombosen als Pillen der älteren, zweiten Generation bergen. Im Jahre 2011 hatte Felicitas Rohrer die erste Klage überhaupt in Deutschland gegen Bayer in dieser Sache eingereicht, nachdem sie im Juli 2009 eine beidseitige Lungenembolie erlitten hatte. Nur dank einer Notoperation hätte sie überlebt, sagt die Klägerin. Zuvor sei sie eine gesunde, 25-jährige Frau gewesen.
Zur Zeit wappnet sie sich für die juristische Auseinandersetzung mit dem Pharmakonzern. Nach jahrelangen ergebnislosen außergerichtlichen Verhandlungen ist der erste Verhandlungstag für den 17. Dezember angesetzt. Dann treffen die Parteien vor dem zuständigen Zivilgericht am Wohnort der Klägerin, dem Landgericht Waldshut-Tiengen (Baden-Württemberg), aufeinander. Noch ist der Ausgang des Verfahrens offen. Letztlich, so ihr Coburger Rechtsanwalt Martin Jensch, komme es auf die Einschätzung der Gutachter an. Unbestritten ist der Leidensweg der jungen Frau. Inwieweit der allerdings tatsächlich mit dem Wirkstoff Drospirenon zusammenhängt, muss das Gericht entscheiden. Der Bayerkonzern bestreitet das.
„Ich hatte gerade mein Tiermedizinstudium abgeschlossen und war auf Jobsuche“, erzählt Felicitas Rohrer über die Ereignisse, die sechs Jahre zurückliegen. Um Zeit zu überbrücken, schrieb sie sich an der Uni Freiburg für ein weiterführendes Studium ein. Auf dem Weg zu einer Prüfung bricht Felicitas Rohrer zusammen: Mir war schwindelig, ich hatte Schmerzen im Brustkorb. Mit Ohrfeigen hat mich mein damaliger Freund wieder zurückgeholt.“ Der junge Mann reagiert besonnen, ruft den Notarzt. „Das hat mir das Leben gerettet“, ist sich Felicitas Rohrer sicher. Und fügt hinzu: „Ich hatte Glück, dass ich erst in der Uniklinik einen Atem- und Herzstillstand bekam.“ Als Reanimationsversuche mit dem Defibrillator scheiterten, öffneten die Ärzte den Brustkorb der jungen Frau. Sie massierten das Herz von Felicitas Rohrer mit der bloßen Hand. „Mein Herz hatte eine Nulllinie. Ich war klinisch tot.“
„Acht Monate Pilleneinnahme haben so viel an körperlichen und seelischen Schäden hervorgerufen. Nichts, was ich für mein Leben geplant hatte, kann ich umsetzen“, urteilt Felicitas Rohrer heute. Eine anhaltende Leistungsminderung habe es ihr unmöglich gemacht, den Traumberuf der Tierärztin zu ergreifen. Der Blutverdünner, den sie regelmäßig einnehmen muss, hat Nebenwirkungen: „Haarausfall, brüchige Fingernägel, für Embryonen eine toxische Wirkung“. Für die junge Frau ist das die größte Einschränkung: „Eine ungeplante Schwangerschaft ist nicht mehr möglich. Aber Kinder haben für mich immer zum Leben dazugehört.“ Damit, und das sagt sie nur ganz leise, komme sie nur ganz schlecht klar. „Ich nehme mein zweites Leben dankbar an, aber da ist auch Trauer und Wut darüber, dass mir mein altes Leben genommen wurde.“
Zusammen mit anderen Betroffenen hat die junge Frau inzwischen eine Selbsthilfegruppe gegründet und auf der Bayer-Hauptversammlung 2010 vor der Aktionärsversammlung einen Verkaufsstopp der Präparate gefordert. In den bevorstehenden Prozess geht sie optimistisch. „Ich kann es gar nicht glauben, dass es endlich losgeht“, sagt sie. Der Konzern bestätigt den Gerichtstermin Mitte Dezember und weist die geltend gemachten Ansprüche als „unbegründet“ zurück. „Die sorgfältige Bewertung aller wissenschaftlichen Daten bestätigt das positive Nutzen-Risiko-Profil von niedrig dosierten kombinierten oralen Kontrazeptiva wie Yasminelle bei bestimmungsgemäßer Einnahme“, heißt es aus der Presseabteilung. Eine Einschätzung, die von Gesundheitsbehörden und unabhängigen Experten bestätigt werde.
Entschädigungszahlungen, die der Konzern in den USA in Höhe von zwei Milliarden Euro an Geschädigte geleistet hat, seien unter anderem auf die Unterschiede beider Rechtssysteme zurückzuführen. „Die Entscheidung von Bayer, ohne Anerkennung einer Haftung und einer Rechtspflicht in den USA Vergleiche abzuschließen, beruht auf den spezifischen Fakten und Umständen des jeweiligen Einzelfalls sowie den Besonderheiten des Rechtssystems in den USA“, heißt es. Diese Argumente kennt Rechtsanwalt Martin Jensch. Er sagt: „Die Zahlungen in den USA sind für mich ein moralisches Argument, wenn auch natürlich für Deutschland nicht rechtlich verbindlich. Kein Konzern der Welt nimmt derart viel Geld in die Hand, wenn an den Vorwürfen nichts dran ist.“
Ungeachtet der Ereignisse in Übersee muss der Coburger Jurist in Deutschland nun beweisen, dass der Inhaltsstoff Drospirenon im Körper eine schädliche Wirkung zeigt, die über ein vertretbares Maß hinausgeht. „Das wird im Rahmen von Gut achten geklärt werden müssen“, sagt er. Jüngste Studien würden beweisen, „dass Drospirenon ein doppelt so hohes, wenn nicht sogar ein noch höheres Risiko mit sich bringt, Thrombosen auszulösen. Das untermauert unseren Anspruch.“ Ist dieser Grundbeweis erst einmal erbracht, greift zugunsten der Klägerin eine sogenannte Kausalitätsvermutung. Das Arzneimittelrecht vermutet dann, dass bei einer grundsätzlichen Schädigungseignung des Inhaltsstoffes auch der konkret geltend gemachte Schaden durch das Arzneimittel verursacht wurde.Drospirenonhaltige Verhütungspillen sind nach wie vor auf dem Markt. Über ihre Zulassung entscheidet das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn. Wird dem Wirkstoff im Verfahren Rohrer / Bayer eine schadhafte Wirkung bescheinigt, die über das nach dem Stand der Medizintechnik vertretbare Maß hinausgeht, werde das Institut von Gesetzes wegen prüfen, ob die Zulassung zurückzunehmen ist, meint Martin Jensch.
Die Coburger Frauenärztin Dr. Friederike Werobèl kennt die Diskussionen um den Wirkstoff Drospirenon. Sie sagt: „Eine Schwangerschaft birgt ein 200- bis 500-Mal höheres Risiko für eine Thrombose. Aber verzichtet deshalb jemand darauf, Kinder zu bekommen?“ Und doch schränkt sie ein. „Raucht eine Patientin, dann verschreibe ich keine Pille der neueren Generation.“ Denn Rauchen gilt als Risikofaktor für eine Thrombose. Letztlich überlasse sie ihren Patientinnen nach einer umfangreichen Aufklärung, für welche Pille sie sich entscheiden.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte warnt auf seiner Homepage vor einem erhöhten Risiko drospirenonhaltiger Pillen. „Dem Bundesinstitut sind in den vergangenen 15 Jahren insgesamt 478 Verdachtsfälle von Frauen mit venösen Thromboembolien gemeldet worden, die drospirenonhaltige Verhütungspillen angewendet haben, darunter 16 Verdachtsfälle mit Todesfolge.“
Für Erstanwenderinnen und Frauen unter 30 Jahren sollten Verhütungsmittel mit bekannt niedrigerem Thromboserisiko verschrieben werden, empfiehlt das Bundesinstitut für Arzneimittel. Und: Generell sei über Anzeichen und Symptome einer Thrombose besser zu informieren. „Verhütungspillen“, so verdeutlicht das Institut, seien eben „keine Lifestyle-Produkte“.
Das Felicitas Rohrer verordnete Verhütungsmittel hatte mit einem Figur-Bonus und einem Feel-Good-Faktor als „positiver Zusatznutzen“ geworben. Neben Felicitas Rohrer betreut Martin Jensch aktuell noch neun weitere Frauen außergerichtlich, denen im Zusammenhang mit Medikamenten, die den Wirkstoff Drospirenon enthalten, Ähnliches passiert ist. Dank des großen Medienechos melden sich immer mehr Betroffene.