Coburg - 25 ganz persönliche Erinnerungsgeschichten. 25 Männer und Frauen, die auf ein historisches Datum zurückblicken: mit Humor, mit Nachdenklichkeit, mit Freude und Skepsis. "Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989" heißt die Neuerscheinung, die von Renatus Deckert im Suhrkamp Verlag herausgegeben wurde. Auf Einladung des Coburger Literaturkreises war Deckert zusammen mit zweien seiner Autoren - Ulrike Draesner (geboren in München, lebt seit über zehn Jahren in Ost-Berlin) und Thomas Rosenlöcher (Dresden) - nach Coburg gekommen, wo sie am Dienstagabend in der Schalterhalle der Sparkasse ein überschaubares, aber höchst interessiertes Publikum erwartete.

"Frau Wiesel" ist der Titel von Ulrike Draesners Rückschau auf den 9. November. Den historischen Moment allerdings bekam sie gar nicht mit, denn in ihrer neuen Wohnung gab es weder Fernsehen, noch Radio oder Telefon. Was passiert war, merkte sie erst, als Trabis durch München rollten, und sie entsinnt sich des "Wir"- und "Die anderen"-Gefühls, das man damals empfand. Die titelgebende Frau Wiesel war eine real existierende Fremdenführerin, die im Frühjahr 1989 eine Münchner Studentengruppe durch Thüringen begleitet hatte. Draesner beschreibt jene Frau Wiesel als "unbestechlich, deutsch und fleißig", sie funktioniert perfekt, bis man nach Erfurt kommt. In ihrer Geburtsstadt packt Frau Wiesel der kalte Zorn angesichts der misslungenen Rekonstruktionen der historischen Häuser: "Schauen Sie sich diesen Pfusch an! Die können nicht mal Farbe herstellen."

"Warum ich den 9. November verschlief", erklärt Thomas Rosenlöcher in seinem gleichnamigen Aufsatz, aus dem er - sympathisch sächselnd und hervorragend rezitierend - einige Ausschnitte vortrug. Der heiter-intelligente Text gibt sehr subjektiv Auskunft über des Autors Befindlichkeit, beleuchtet (selbst-)kritisch seine DDR-Jahre (Rosenlöcher ist Jahrgang 1947): man passte sich an, nahm den "Lügenstaat" hin. Wichtiger als der 9. November ist für Rosenlöcher der 8. Oktober, an dem die größte "Wir sind das Volk"-Demonstration in Dresden stattfand und die Staatsmacht nicht eingriff, sich vielmehr zurückzog: "Ja, auch am 8. Oktober war eine Mauer gefallen. Nur dass die Mauer behelmt war und sich im Gänsemarsch entfernte." Und: "Sprachlos stand der Chronist in der Menge, als das Volk seine Sprache fand."

Von Renatus Deckert moderiert, erzählten Rosenlöcher und Draesner von ihrem Leben gestern und heute. So erinnert sich Rosenlöcher, dass er 1989 befürchtete, dass in der DDR als Antwort auf die Demonstrationen eine "scharfe Diktatur" kommen könnte: "Da wird der Sarg zugemacht und wir sitzen drin."

Draesner und Rosenlöcher berichteten dem aufmerksamen Publikum von "nicht geteilten Erfahrungen", vom "Fremdsein im eigenen Land", vom "Rechtfertigungsdruck", der beim Austausch über die Biografien immer noch zu spüren ist. Doch sieht man die Ossi-Wessi-Unterschiede auch durchaus als Bereicherung an.

Renatus Deckert vereint in dieser Anthologie sehr unterschiedliche Schriftsteller mit sehr unterschiedlichen Blickrichtungen. Die 25 Originaltexte entstanden eigens für diese Neuerscheinung, die unter anderem Autoren wie Jürgen Becker, Durs Grünbein, Kerstin Hensel, Robert Menasse und Uwe Tellkamp vereint und dem Leser ein literarisches Wende-Kaleidoskop bietet, das zugleich intelligent und unterhaltsam, informativ und nachdenklich ist.

"Die Nacht, in der die Mauer fiel". Herausgegeben von Renatus Deckert, Suhrkamp Taschenbuch 4073, Seiten, 8,90 , ISBN 978-3-518-46073-3.