Im Anfang war das Alter. Nicht Suleika, nicht Marianne. Goethe wird in diesem Jahr 1814 zu seinem 65. Geburtstag gehuldigt werden, das war die Schwelle zum Greis damals. Und er ist einsam. Die "Farbenlehre" ist abgeschlossen, der große Irrtum seines Lebens, "Die Wahlverwandtschaften" auch. Der einzige Überlebende der großen Dichter, Herder, Wieland, Schiller, und der einzige Überlebende einer Epoche auch. Napoleon, dessen Ehrenlegion er trägt mit Stolz, ist auf Elba. Und er ist droben auf dem Olymp und hält Ausschau nach Gegenden, die es lohnen. Es wird eine Reise an den Main und in den Orient und es wird seine letzte große Reise sein.

Soldaten, die mit Napoleon in Spanien kämpften, brachten ihm 1813 ein Blatt mit arabischen Schriftzeichen, er lässt es übersetzen, es ist eine Sure aus dem Koran. Der Augen-mensch Goethe findet sich nur durch die Kalligraphie schon sonderbar berührt, "wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein", hatte er seinen Faust sagen lassen. Und später, im zweiten "Faust", wird es heißen "Welch gut Geschick hat dich hier gebracht / unmittelbar aus Tausend einer Nacht" - die Märchensammlung vermittelte den ersten wirklichen europäischen Kontakt mit dem Orient. Er kannte den Koran, Herder hatte ihn früh damit bekannt gemacht und früh hatte er sich an einem Drama "Mahomet", das damals übliche Wort für Mohammed, versucht. Und 1799 hatte ihn sein Herzog genötigt, Voltaires "Mahomet" für die Weimarer Bühne zu übersetzen. 1814 nun schickt ihm Cotta, sein Verleger, den "Diwan", die Gedichtsammlung des Persers Hafis (ca. 1320 bis 1390). Das ist es nun. Goethe beginnt den Dialog mit seinem großen Kollegen, der größte Dichter des Persischen und der Inhaber dieses Amtes im Deutschen.

Kritisches Bekenntnis

Er hat bereits begonnen mit diesem Spätwerk, als er zweimal, 1814 und 1815, Marianne von Willemer in Frankfurt begegnet, sie dreißig, er Mitte sechzig. Sie wird die einzige von Goethes Frauen, der er auf jener Ebene begegnet, die sonst nur ihm vorbehalten war. Sie ist der einzige Mensch, dessen Gedichte unter dem Namen Goethes erschienen, was erst posthum offenbar wurde. Das "Buch Suleika" ist das Herzstück des "West-östlichen Diwan", der im Jahr 1819 erscheint. Es ist, neben der Liebesgeschichte, eine Bekenntnis zum Islam und eine Kritik daran zugleich.

Goethe, der jegliche Reglementierung hasste, konnte sich keiner der drei großen monotheistischen Religionen ganz ergeben, gottlos war er nicht. Doch Theologie ist für ihn nicht mit Dogmen bewehrt, das ist für ihn kein Bereich außerhalb anderer geistiger Felder wie Philosophie, Wissenschaft, Literatur. Dem Protestanten war das Lutherische "Nur aus Gnade" nie nahe, er hielt es mehr mit den "guten Werken" des Katholizismus. Und da, auch da, kam ihm der Islam entgegen, von dem er größere Kenntnis besaß als mancher, der heute darüber rechtet.

Hafis war ihm der rechte Vermittler. Und ein wenig mag ihn auch die Zwiesprache mit dem Propheten bewegt haben. Der Mensch-Gott am Kreuz war ihm kein wirkliches Sinnbild, die "Erbsünde" blieb ihm fremdes Denken und im Koran heißt niemand Lahme gehen und Blinde sehen. Mohammed aber war ein Mensch, dem er gleichsam auf Augenhöhe begegnen konnte, in der Gewissheit der eigenen Größe.

Weltliches Evangelium

Der Poet galt ihm als ein Prophet eigener Art, der Schöpfer eines "weltlichen Evangeliums". So würdigt er den Koran im "Diwan" wie in den kommentierenden "Noten und Abhandlungen", so hält er ihm aber auch vor, eine "düstere Religionshülle" über die Poesie geworfen zu haben. Deshalb auch ist ihm Hafis nahe, der den islamischen Ehrennamen trägt und zugleich ein sinnenfreudiger Mann ist, das ist ihm die rechte Art, eine Religion im Herzen zu tragen und sich ihrer lebensfernen Dogmen zu erwehren.

Goethes Religion war eklektisch, er nahm sich, was seinem Leben und Denken entsprach, er verwarf, was ihm fremd blieb. Ein solches Denken muss sich immer in Distanz befinden zur institutionalisierten Religion, einem solchem Denken musste die islamische Mystik näher sein als die christliche Dogmatik.

So wurde "die Patriarchenluft des reinen Ostens" für Goethe zu einer Welt-Erfahrung, einer Welt-Befahrung. So rein, so unschuldig ist dieser Osten unserer Gegenwart nicht mehr, kann es nicht mehr sein, wenn wir Islam denken, denken wir nicht an Mohammeds ferne Kriege, sondern an seine fanatisierten Krieger, Bagdad ist uns nicht der märchenhafte Ort Harun al Rashids.

In Weimar erinnert ein Denkmal an den Dialog des Deutschen Goethe mit dem Perser Hafis. Es wird wichtiger mit jedem Toten.