Coburg - Zuschauen, wie sie Sonne langsam untergeht, einen rundgeschliffenen Flussstein zwischen den Fingern hin- und herbewegen, ein wenig durch den Hofgarten flanieren - es wäre so einfach, der Hektik des Tages für einen Moment zu entfliehen. Dass wir uns jedoch immer mehr vom Sog zunehmender Arbeitsbelastung und ausufernder multimedialer Möglichkeiten vereinnahmen lassen, steht diesen Momente der Muße entgegen. Da wäre ein Patentrezept recht, das uns hilft, unser Leben zu entschleunigen. "Muße"-Autor Ulrich Schnabel hat es: Auf drei Buchseiten bringt er das auf den Punkt, was er eigentlich bekämpft. "Muße für Eilige" ist die Quintessenz seiner Recherchen, die - mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert - ein Loblied auf die Muße singen.

Noch guckt das zahlreiche Publikum in der Coburger Buchhandlung Riemann an diesem Donnerstagabend gestresst, in kribbeliger Erwartung auf Schnabels Vortrag. "Vom Glück des Nichtstuns" (so der Untertitel) wollen sie etwas erfahren, während die letzten SMSen gecheckt werden und das Handy nicht aus, sondern vermutlich lediglich auf Vibrationsalarm gestellt wird. Dann erzählt der Autor von einem Furore machenden Musikstück John Cages, das viereinhalb Minuten pure Stille in den Konzertsaal holte. Und vom weltweit erfolgreichen Outdoor-Spezialisten, der seine Mitarbeiter zum Surfen oder Skifahren schickt, statt ihnen mit unaufhörlichem Arbeitsdruck die Kreativität und Motivation zu rauben. Das still gewordene Auditorium schmunzelt süffisant. Solche Mußestunden im eigenen Leben? Unvorstellbar.

Doch ZEIT-Journalist Ulrich Schnabel ("Die Vermessung des Glaubens") berichtet, wie das Unvorstellbare machbar wird. Er selbst überzeugte seinen Verleger, dass er sechs Monate Auszeit nehmen durfte, um sein "Muße"-Buch in Ruhe zu schreiben. Und weitere solche Arbeitsphasen in Ruhe werden folgen.

Quatsch, wird jetzt die Sekretärin denken oder der Verwaltungsangestellte. Meine Arbeit fordert doch stetige Präsenz im Betrieb! Dass besonders Mitarbeiter in unteren Hierarchieebenen mit festen Arbeitszeiten unter den täglichen Druck als Streß wahrnehmen, während Vorgesetzte mit viel längeren Arbeitstagen weniger unter der Arbeit leiden, dazu trägt Schnabel Fakten bei. Der innere Widerstand gegen Anweisungen sorgt für Frust. "Selbstbestimmung" ist eines der Zauberwörter, die die Empfindung von dem zu Erledigenden und der dazu notwendigen Zeit beeinflussen. Oft lässt der normale Arbeits- und Familienalltag nicht genügend selbstbestimmte Zeit zu. Aber der Autor verrät, wo man sich die kleinen Momente der selbst bestimmten Zeit holen kann.

Atmen. Das tut man ja andauernd. Wenn man aber - im sich verspätenden Zug wie am Donnerstag bei Schnabel selbst, oder an der langen Schlange im Supermarkt - eine bewusste kleine Atemmeditation macht, dann ist das, so erklärt der Autor, selbst bestimmte Zeit und ein unglaublicher Mußegewinn.

In der Qual der Auswahl unseres vielgestaltigen Lebens und der Flut der Waren hat Schnabel ein weiteres Hemmnis der Muße gefunden,. Das Auswählen (beziehungsweise die damit einhergehende Entscheidung gegen die vielfältigen Alternativen) versursacht dem Menschen Stress. Reduktion ist demnach für Schnabel eine Kunst, die der künftige Müßiggänger lernen sollte. Er erläutert das mit dem Beispiel einer Wanderung auf eine Almhütte im Elsass. Nach beschwerlichem Bergauf genießen die Wanderer nicht nur einen sagenhaften Ausblick, sondern ein einfaches Mahl aus Ziegenkäse und Wein, das sie als ungleich lukullischer empfinden, als das beste Gänge-Menü im Restaurant in der Stadt. Alles ein Frage der Perspektive, erklärt der Autor.

In seinem "Werkzeugkasten der Muße" gibt Ulrich Schnabel, der mit launigen Worten sein Publikum einnimmt für die neu entdeckte Muße-Idee, gute Tipps, die eigentlich jeder kennt, nur zu selten anwendet: Nein-Sagen, sich Verbündete suchen, Pausen wertschätzen. Wer sich seine eigene Muße-Strategie entwickeln möchte, dem empfiehlt er, kleine Schritte zu gehen, und die großen Ziele aufzuschreiben, damit sie nicht gleich wieder in Vergessenheit geraten. "Stressen Sie sich nicht mit der Muße!", grinst er ins eifrig applaudierende Publikum, wo seine Botschaft auf offene Ohren getroffen ist.

Ulrich Schnabel: "Muße", Blessing Verlag, 287 Seiten, ISBN-13: 9783896674340, 19,95 Euro.