Coburg - Verschlingen, verzehren, erdrücken. Halten, umfangen, trösten. Heimat ist nicht nur ein geographischer Begriff, sondern eine Verortung des Ich in der Vergangenheit. Töne und Bilder schaffen diese emotionale Verankerung, lassen Passiertes, Vergessenes, Verdrängtes an die Oberfläche steigen.

"Ein fränkisches Lese- und Hausbuch Anno Domini 2011" nennt der in Coburg lebende Schriftsteller Manfred Kern sein neuestes Werk im Untertitel. Lese- und Hausbuch: das suggeriert angenehme Erbauungsliteratur. Doch mit dem Untertitel führt Kern die Leser von "Heimatsong" aufs literarische Glatteis. Sein Heimatsong klingt nicht versöhnlich, sondern verstörend. Die Kakophonie aus Enge und Engstirnigkeit im mittelfränkischen Wettringen, wo der 1956 geborene Autor auf einem Bauernhof aufwuchs, wird greif- und fühlbar.

In "Heißkalt" erzählt der Schauspieler Felix seinem stummen Gegenüber Paul von seiner Kindheit im "verödeten Dorf", wo er bei den Großeltern aufwuchs, weil die Mama ihn wie ein Findelkind bei ihren Eltern auf die Türschwelle gelegt hatte. Hinter der blitzblanken Fassade des schmucken Hauses mit dem vergoldeten Werkstattschild des Schneidermeisters geht´s freudlos zu. Das Kind ist für Oma und Opa eine Belastung, Schläge und Fußtritte sind an der Tagesordnung. Felix´ Erinnerungen springen hin und her, den Dialekt hat er nicht vergessen (dass der Autor etliche Passagen auf Fränkisch schreibt, mag authentisch sein, dem Lesefluss ist es jedoch eher abträglich). In seinen Reminiszenzen lebt die Mundart wieder auf, die der Mime so erfolgreich abgelegt hat: "meine Aussprache ist ... rein ... gewissermaßen bodenlos". Der "Bühnendeutsche" (so bezeichnet er sich selbst) hat seine Vergangenheit ad acta gelegt, als er endlich "durchs Nadelöhr meiner Kindheit geschlüpft war und verschwinden konnte".

Viel Autobiografisches fließt in die Erzählung "Ida" ein. Nur vordergründig spielt die Geschichte um die Heimatvertriebene Ida und ihre Familie eine Rolle. Die Schlesier dienen Manfred Kern dazu, ein Stück Dorfchronik nach dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben: "Dorfgeschichte als Weltgeschichte und umgekehrt ..."

Auch in "Das letzte Bild" dient ein Außenstehender als Rahmenfigur, um die herum der Autor Selbstgefühltes und -erlebtes rankt. Todesangst bemächtigt sich seiner angesichts der Begegnung mit dem senilen Nachbarn.

Sieben Gedichte sind "eingestreut" ins Lese- und Hausbuch: komprimiertes Erinnern in poetischer Form. "In den Büchern suche/finde ich Heimat. In/aus ihnen hat die Vertreibung noch nicht stattgefunden." heißt es im titelgebenden "Heimatsong". Und so lässt Manfred Kern die Leser teilhaben an seinem sehr persönlichen Sich-von-der-Seele-Schreiben, er nimmt sie mit auf eine bildersatte Reise in seine Vergangenheit.

Manfred Kern: "Heimatsong. Ein fränkisches Lese- und Hausbuch Anno Domini 2011". 200 Seiten, gebunden. Wiesenburg Verlag, Schweinfurt, 17,80 Euro. ISBN 978-3-942063-79-1.

Manfred Kern

Manfred Kern wurde 1956 in Rothenburg ob der Tauber geboren und wuchs auf einem Bauernhof in Wettringen (Landkreis Ansbach) auf und absolvierte in Würzburg eine Ausbildung zum Buchhändler. Seit 1985 verfasst er als freier Schriftsteller in Coburg Lyrik und Prosa in Hochdeutsch und Mundart.

Einzelschriften:

"Der Abgang", Erzählung (1999), "Offene Wunden" (Ein Requiem, 2001), "Verlasse bo mir" (Mundardgedichde, 2001), "Die Verwunschenen" (Sieben Erzählungen. 2002), "Di woahre Gschichd vo meim zweide Leewe odder wi i oahne gresseri Umschdend zum Goehde seim goldene Kodzaamerle kumme bin"(mit CD, 2004), "Erste Bilder oder Der Weg bleibt zurück" (Ein Poesiealbum für Laura, 2005), "Lerchen und grüne Kartoffeln" (Gedichte, 2007), "Habbag auf dem Highway" (mit Harry Düll, CD, 2008), "Heimatdmuseum" (Ein Possenspiel in acht Stationen, 2010).