Coburg - Vom Hoffnungsträger zum Autokraten: Erdogan polarisiert - auch hierzulande: Wie tief die Kluft ist, die Anhänger und Gegner des türkischen Staatschefs und seines Regimes trennt, wird auch an diesem Abend deutlich: Lebhaft gerät die Diskussion nach Karen Krügers Lesung aus ihrem Buch "Bosporus Reloaded - Die Türkei im Umbruch" in der Coburger Stadtbücherei. Viel Bestätigung erhält sie von jungen türkischstämmigen Frauen - doch auch Kritik wird laut an ihrer vermeintlich einseitigen Darstellung der autoritären und patriarchalen Strukturen.

Gemeinsam mit ihrer Kollegin Anna Esser schildert und erklärt die FAZ-Feuilletonistin Karen Krüger in dem im Herbst 2015 erschienenen Buch anschaulich die gravierenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der Türkei - und rückt die junge Generation in den Fokus, deren Werte und Ziele in krassem Gegensatz zu denen Erdogans und seiner muslimisch-konservativen Partei AKP stehen.

Die beiden deutschen Journalistinnen wissen, wovon sie schreiben: Beide wuchsen im Istanbul der 1990er-Jahre auf und haben sich beruflich auf die Türkei spezialisiert. So blicken sie nicht nur mit professionellem Interesse auf die Türkei am Scheideweg, sondern auch mit ganz persönlicher Hoffnung und Sorge, denn sie selbst sind Teil dieser Generation.

Dreh- und Angelpunkt ihres so informativen wie unterhaltsamen Reports sind die Ereignisse im Istanbuler Gezi-Park im Mai 2013: Aus dem Widerstand gegen die Zerstörung des Parks entwickelte sich schnell eine landesweite Protestbewegung gegen die Regierung Erdogan. Die Revolte wurde zwar nach vier Wochen gewaltsam beendet, wirkt aber dennoch nach als Symbol der Hoffnung und des Aufbruchs.

Die Autorinnen erläutern die Bedeutung dieser Initialzündung mit einem "Schnelldurchgang durch die türkische Geschichte", aus der sich die ideologischen Spannungen und Spaltungen des Landes erklären, und das gänzliche Fehlen einer Protestkultur. Im Gezi-Park entflammte sie, und die alten Gräben schienen überwunden: "Kemalisten und Kurden, Kleinbürger und Kommunisten, Säkulare und Muslime, Lesben, Schwule, Transsexuelle, Anarchisten und Trotzkisten kämpften auf einmal Seite an Seite."

Den Hoffnungssignalen stellen die Autorinnen ernüchternde Darstellungen eines autoritär geführten Landes gegenüber, das von demokratischen Standards weit entfernt scheint: "Die Pressefreiheit ist faktisch abgeschafft", kritisiert Krüger, die von Einschüchterung, Verleumdung und Verfolgung kritischer Journalisten berichtet und das von Konzernen dominierte Mediensystem analysiert: "Über die Jahre wurden aus kritischen Medien Lakaien im Dienste der Regierung."

Umso größer ist die Bedeutung von Online-Plattformen und sozialen Netzwerken für kritische Bürger. Doch auch diese Informationsquellen unterliegen staatlicher Zensur: Von 70 000 gesperrten Internetseiten berichten die Autorinnen - und von einer drastischen Verschärfung des Internetgesetzes, mit der Erdogan die Gegenöffentlichkeit zu unterbinden versuche: "Sie ist ein Freifahrtschein in den Überwachungsstaat, für Zensur und Willkür."

Auch die Situation der Frauen in Erdogans Türkei beleuchten die Autorinnen kritisch: Gewalt gegen Frauen werde noch immer verharmlost und geduldet, das konservative Rollenbild gepflegt - und die herrschende AKP vermittle eine "nicht zu übersehende Geringschätzung gegenüber dem weiblichen Geschlecht".

Nicht jeder will dies wahrhaben, für Diskussionsstoff ist gesorgt an diesem Abend, der dazu beiträgt, ein Land und seine Menschen zu verstehen, das uns in vielerlei Hinsicht nahe ist - was seinen Platz im Rahmenprogramm des Coburger Rückert-Jahres erklärt. Ein wirklich differenziertes Bild lässt sich anhand weniger ausgewählter Passagen freilich nicht gewinnen - dazu sollte man "Bosporus Reloaded" schon zur Gänze lesen.

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Karen Krüger, Anna Esser: Bosporus Reloaded. Die Türkei im Umbruch. Aufbau-Verlag Berlin. 2015; 16,95 Euro.