Coburg - Nachdem man bereits zum Welttag des Buches am 23. April "Literatur in den Schulen unserer Stadt" und "... in den Häusern unserer Stadt" angeboten hatte, fand als offizielle Auftaktveranstaltung der diesjährigen Coburger Literaturtage "Coburg liest" am Freitag die "Lange Nacht der kurzen Geschichten" statt. Der erste Teil der Veranstaltung fand im Andromeda-Saal der Landesbibliothek in Schloss Ehrenburg statt. Hausherrin Dr. Silvia Pfister begrüßte alle Gäste aufs Herzlichste, ebenso wie Irmgard Clausen und Oskar Ohler vom "Coburg liest!"-Team.

Markus Orths - 1969 geboren und einer der erfolgreichsten jüngeren deutschen Autoren - eröffnete den Lese-Marathon, der heuer eben nicht der langen, sondern der kurzen Erzählform vorbehalten war. 2006 erschien sein Erzählband "Fluchtversuche", in dem er spannende, teils kafkaeske Geschichten voller Kuriositäten vereint. "Kleine Welt" ist der Titel des ersten Textes. Der Ich-Erzähler bemerkt bei einer Mexiko-Reise die Ähnlichkeit zwischen einer Maya-Frau und seiner schwäbischen Nachbarin. Dies löst bei ihm eine wahre Vergleichs-Lawine aus, die all seine sozialen Kontakte mit sich reißt., bis er zu dem irrsinnigen Schluss kommt, "dass diese ganze verdammte Welt . . . aus nichts anderem bestand als aus - mir selbst."

In "Das große O" geht es um ein - vermeintlich - verpatztes Philosophie-Examen. Nachdem Markus Orths selbst Philosophie studierte, versteht er es meisterlich, den ganzen Uni-Betrieb herrlich skurril darzustellen. Das verblüffende Ende seiner Geschichte löste denn auch wahre Lachsalven aus.

Lesetischchen frei für Sudabeh Mohafez hieß es dann. Die Autorin lebte bis zu ihrem 16. Lebensjahr in Teheran, bevor sie 1979 nach Berlin kam. Sie las nicht - wie angekündigt - aus ihrem Erzählband "Wüstenhimmel, Sternenland", sondern hatte zur freudigen Überraschung des Publikums zwei brandneue Geschichten mitgebracht, die erst in ihrem nächsten Buch erscheinen werden. "Übergänge" ist eine zarte, melancholische Liebesgeschichte. Einfühlsam beschreibt Sudabeh Mohafez die (Un-)Möglichkeit, eine große Liebe zu leben.

Zwei Kinder sind die Hauptfiguren in "Ganz egal, was die Großen erzählen". Die Geschichte spielt in Teheran am Tag vor Weihnachten. Vordergründig geht es um den kindlichen Glauben an den Weihnachtsmann. Es gelingt Mohafez jedoch, aus der kindlich-naiven Ebene hinauszutreten und klarzumachen, wie wichtig es ist, an seinen Träumen und Vorstellungen festzuhalten.

Mit ihren bezaubernden "Gartengeschichten" eröffnete Eva Demski den zweiten Teil dieser langen Lesungs-Nacht. Das Publikum war inzwischen von der Ehrenburg in das Gemeindezentrum von St. Augustin gepilgert und hatte sich mit Wein und Schmalzstullen gestärkt. Die Frankfurter Journalistin und Schriftstellerin denkt in ihrem Buch über das Garten-Mensch-Verhältnis nach und begibt sich auf "Gefährliches Terrain" (so der erste Lese-Text), wenn sie Intellektuelle in ihren Garten lässt. Höchst amüsant und humorvoll schildert Demski das Unwissen und Misstrauen der gebildeten Gartenverächter(innen).

Ans Herz gewachsen ist der Autorin ganz offensichtlich "Der Gärtner von der traurigen Gestalt". In der gleichnamigen Geschichte heißt es: "Er war arm wie eine Blattlaus, aber alles wurde unter seinen Händen zum Garten." Liebevoll und auch mit einer gehörigen Portion Humor erzählt Demski vom Erfolg und vom Scheitern dieses Flora-Jüngers.

Lutz Seiler, der 1963 in Gera geboren wurde, erhielt 2007 den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis für seinen Erzählband "Turksib". In der turkmenisch-sibirischen Eisenbahn unternimmt der Ich-Erzähler eine beklemmende Fahrt durch die radioaktiv verseuchte kasachische Landschaft. Ein kleiner Geigerzähler, das "Erzählerkästchen", signalisiert das Gefahrenpotential. Und dann ist da noch die Begegnung mit dem Heizer, der Heinrich Heines "Loreley" zitiert . . .

Autoren im Gespräch

Mit dieser poetisch ungemein kraftvollen Erzählung endete der Lesungsteil der langen Nacht. Es war wieder Zeit für Wein und Stullen. Zur abschließenden Diskussion hatten sich die Reihen merklich gelichtet, aber unter der Moderation von Dr. Reinhard Heinritz kam dann doch rasch ein interessantes Gespräch mit den vier Schriftstellern in Gang. So outete sich Markus Orths als ein Verfechter der Kürze, der sogar in Grass' "Blechtrommel" 150 Seiten streichen würde. Eva Demski blieb bei ihren Garten-Metaphern als sie bekannte, dass sie am Anfang oft nicht wisse, ob sich ein Text zu einem Stiefmütterchen (Kurzgeschichte) oder zu einem Ahorn (Roman) entwickeln wird.

Und was bedeutet das Erzählen für die Dichter/innen? Für Sudabeh Mohafez ist es ein Prozess von Kommunikation, um "Innenorte nach außen zu tragen". Für Lutz Seiler, der überwiegend Lyrik publiziert, ist das Erzählen eine "schöne Abwechslung, ein großer Spaß". Es sind, so Seiler, die anderen Bewusstseins- und Wahrnehmungszustände, die ihn am Geschichtenerzählen reizen.

Heftig und auch durchaus kontrovers diskutierten die Autoren über die Frage: Wie viel steckt von mir in dem Text? Bin ich der Text? Und während für Seiler Autor und Text zwei verschiedene Dinge sind, sieht Mohafez ihr Schreiben durchaus als Kommunikation mit dem Leser.

Gegen Mitternacht waren alle sichtlich ermattet. Man ging erfüllt von dem Gehörten auseinander. Manche nachdenklich, manche fröhlich, manche auch einfach nur durstig. Die "lange Nacht der kurzen Geschichten" war ein fast fünfstündiger Literatur-Marathon, und - wie Sudabeh Mohafez - bekannte, etwas ganz Besonderes, denn: "Das Schreiben ist einsam. Gelesen wird allein. Ein solches Zusammenkommen zwischen Autor und Leser ist ein einzigartiger Moment!"