Zuerst schrieb sie den Prosatext, dann folgte das Stück – doch die Premieren kamen in umgekehrter Reihenfolge: Im März dieses Jahres wurde das Drama „Immerwahr“ um die erste deutsche promovierte Chemikerin Clara Immerwahr in der Reithalle uraufgeführt und nun stellte die Coburger Schriftstellerin auch den soeben erschienenen Roman gleichen Titels vor. Im Bühnenstück, das sie gemeinsam mit der Schauspielerin Anja Lenßen entwickelte, geht es vor allem um den Tod von Clara Haber geborene Immerwahr. Im Roman erzählt Sabine Friedrich anhand umfänglich recherchierter Fakten aber doch mit genügend fiktionaler Freiheit von einem Frauenleben im kaiserlichen Deutschland.

Frauen an den Unis – das ist für uns heute eine Selbstverständlichkeit. Als Clara Immerwahr um 1900 studiert, promoviert und als unbezahlte Laborassistentin ihres Professors in Breslau den Höhepunkt ihrer akademischen Karriere erreicht, ist das für Frauen eine Besonderheit, um nicht zu sagen ein Privileg. Neugierig und weltaufgeschlossen ist Clärchen von Anfang an, fragt ihrem Vater – ebenfalls ein Chemiker – Löcher in den Bauch. Sie besucht das Realgymnasium, wo sich die Mädchen zwar mit Dichtung und Wissenschaft beschäftigen dürfen, darüber aber nie ihre eigentliche Bestimmung als Hausfrau, Gattin und Mutter vergessen sollen. Clara stellt dies alles zurück, nimmt erst den zweiten Heiratsantrag an, den ihr Fritz Haber macht. Sie träumt davon „ihren Schreibtisch neben seinen zu stellen“, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren.

Entfremdungen

Mit 31 Jahren erwartete sie ihr erstes Kind, ist eine späte Mutter. Ab diesem Zeitpunkt muss die junge Frau erleben, wie ihre Träume zerstäuben. Sie näht Windeln und Kissen, statt zur Uni zu gehen, die häuslichen Pflichten, die Sorge um Mann und Kind, die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen fressen sie auf. Sie entfremdet sich von ihrem Mann, der sich fortan mehr denn je in seine Arbeit stürzt.

Und er entfremdet sich von ihr. Die bahnbrechende Entwicklung des Kampfgases, sein untertanentreues Eintreten für Deutschland im 1. Weltkrieg, der von ihm persönlich überwachte Giftgaseinsatz an der Westfront, Fritz Haber als reitender Held von Flandern – während er Karriere macht verliert Clara den Boden unter den Füßen. Als eine große Festgesellschaft in der Haberschen Villa den Sieg bei Ypern feiert, stellt sich Clara oben in ihrem Zimmer die Frage „Was wäre geschehen, wenn ich Fritz nicht geheiratet hätte?“

In Rückblenden und einer faszinierenden Collage-Technik erzählt Sabine Friedrich von Claras Leben. Da stehen idyllische Kindheitsbilder auf dem Gut bei Breslau neben schrecklichen Szenen im Schützengraben. Da steht wissenschaftlich Umwälzendes neben Hausrezepten und Aberglauben. Eingebettet ins private Leben greift immer wieder das Politische Raum. In vielfältigen Facetten schillern hier zwei – letztlich vergebliche – Emanzipationsgeschichten auf: Die einer gescheiten Frau, die an der Gesellschaft scheitert; die eines Mannes, der als Wissenschaftler die Grenze des Ethischen überschreitet und als Jude trotz übersteigertem Patriotismus letztlich doch (er stirbt 1934 auf der Flucht ins Exil) ein Opfer wird.

Stilecht im Hörsaal 5.2 der Hochschule Coburg stellte Sabine Friedrich auf Einladung der Buchhandlung Riemann ihren Roman vor. Leider fanden weniger Interessenten als erhofft den Weg zur Buchpremiere. Sowohl mit dem Theaterstück als auch mit dem Roman hat Sabine Friedrich bewiesen, dass sie auch in den unterschiedlichen Genres eine Geschichte spannend, stilsicher und sprachmächtig darstellen kann. Zudem verfügt sie über ein sicheres Gespür für Themen, die bewegen. Ähnlich ihrer vorherigen Romane („Tafelsilber“) bildet Friedrich auch in „Immerwahr“ private Schicksale vor der großen Folie der Geschichte ab. Sie lässt uns mit Clara schmunzeln, weinen oder zornig sein. Und sie konfrontiert uns, wie Literatur es soll, mit den existenziellen Fragen über Leben und Liebe, Männer und Frauen, Staat und Gesellschaft, Wissenschaft und Ethik.

Sabine Friedrich: Immerwahr, dtv Taschenbücher, 218 Seiten, 14 , ISBN-13: 9783423246101.