Paris - Gila Lustiger ist eine scharfsinnige Beobachterin der französischen Gesellschaft. In ihrem 2016 erschienenen Buch «Erschütterung. Über den Terror» hat die 54-jährige Schriftstellerin über die Anschläge von Paris und deren Folgen geschrieben. Eine davon sei die Radikalisierung der Zivilgesellschaft, die zu den erschreckenden Wahlerfolgen der Rechtspopulistin Marine Le Pen geführt habe, sagt die Tochter des 2012 verstorbenen Historikers Arno Lustiger. Über das Frankreich von einst und heute spricht Gila Lustiger im Interview der Deutschen Presse-Agentur in Paris.

Frage: Die Rechtspopulistin Marine Le Pen geht am 7. Mai gegen den Parteilosen Emmanuel Macron in die Stichwahl. Macht Ihnen das Angst?
Antwort: Ich verfolge den Wahlkampf mit viel Sorge. Ich finde es beängstigend, wie sehr wir uns an den Umstand gewöhnt haben, dass die Front National fester Bestandteil der politischen Landschaft geworden ist.

Frage: Marine Le Pen war in den vergangenen Jahren bemüht, die Partei ideologisch harmloser wirken zu lassen. Im Wahlkampf hat sie jedoch die geschichtsrevisionistischen Ansichten ihres Vaters und Gründers der Front National, Jean-Marie Le Pen, wieder aufgegriffen. Wer ist für Sie Marine Le Pen?
Antwort: Man braucht nur ihr Programm anzuschauen, um festzustellen, dass sie das gleiche Gedankengut vertritt wie ihr Vater. Sie weist dieselbe DNA auf. Die Front National ist rassistisch, antisemitisch und leugnet den Holocaust.

Frage: Marine Le Pen ist mit mehr als 21 Prozent in den zweiten Wahlgang gekommen. Laut Umfragen könnte sie in der Stichwahl am 7. Mai auf über 40 Prozent kommen. Wie erklären Sie sich ihre Popularität?
Antwort: Durch die große Unzufriedenheit. Viele ihrer Wähler sind Jugendliche und Arbeiter. Die Front National ist zu einer Arbeiterpartei geworden. Sie bedient die Ängste dieser Wähler, die sich in den anderen Parteien nicht mehr vertreten sehen. Zudem ist die Ausgrenzung in Frankreich ein großes Problem geworden.

Frage: Sie leben seit über 30 Jahren in Frankreich. Wie hat sich das Land für Sie verändert?
Antwort: Ich bin zu einer Zeit nach Frankreich gekommen, in der der Begriff «Black, blanc, beur» (schwarz, weiß, arabisch) in aller Munde war. Damit hat Frankreich nicht ohne Stolz seine Multiethnizität hervorgehoben. Ich kenne keinen Politiker mehr, der darin noch ein Vorbild sieht und die damit verbundenen Werte verteidigt. Heute reden alle über Sicherheit, Wirtschaftskrise und Globalisierung.

Frage: Wollen Sie damit sagen, dass Frankreich kein Einwanderungsland mehr ist?
Antwort: Nein, natürlich nicht. Schaut man sich das Straßenbild an, sieht man immer noch Menschen unterschiedlicher Hautfarben und Sprachen. Aber heute glaubt niemand mehr an den multikulturellen Slogan «Black, blanc, beur». Dieses Ideal ist vorbei.

ZUR PERSON: Gila Lustiger wurde am 27. April 1963 in Frankfurt am Main geboren. 1981 ging sie zum Studium der Germanistik und Komparatistik nach Jerusalem. Zeitgleich war sie in Tel Aviv Lektorin für Deutsche Literatur und Kinderliteratur. 1987 zog sie nach Paris, wo die Schriftstellerin noch heute lebt. Sie hat zahlreiche Romane veröffentlicht, darunter «Die Bestandsaufnahme», «Die Schuld der anderen» und «Erschütterungen. Über den Terror».