Mit seiner letzten Erzählung, die wenige Tage vor seinem überraschenden Tod am 12. September erschien, ist Erich Loest zu seinen Anfängen als DDR-Nachwuchsautor zurückgekehrt. Fünf Jahre nach Kriegsende hatte er damals seinen vielbeachteten und hochgelobten Roman "Jungen, die übrig blieben" (1950) veröffentlicht, wo er die Jahre 1944/46 beschrieb, die ihm nun noch einmal den Erzählstoff liefern.
Wiederum geht es um seine Heimatstadt Mittweida, die er nur anders nennt, aber es geht nicht um ihn, sondern um den Kommunisten Herbert Vogelsberg, der im Konzentrationslager Sachsenhausen eingesperrt war und nun in einer Strafkompanie Panzergräben ausheben muss gegen die anrückende "Rote Armee". Die Handlung setzt im September 1944 ein, da war Stalingrad längst gefallen, das Attentat auf den "Führer" vom 20. Juli 1944 war gescheitert, und "die Russen" hatten in Ostpreußen Reichsgebiet erreicht. Und sie endet im April 1946, als im Ostberliner "Admiralspalast" am 22. April die "Sozialistische Einheitspartei" gegründet wird, die bis 1989 diktatorisch über die DDR-Bevölkerung herrschen sollte.

In 22 Kurzkapiteln baut der Autor eine gespenstische Szenerie auf, die er aus eigenem Erleben kennt. Auch sein Held Herbert Vogelsberg hat ein Vorbild im wirklichen Leben: Johannes Vogelsang (1892-1987), Arbeitersohn und Kommunist aus Mittweida, der seit 1929 für die "Rote Hilfe" im Bezirk Erzgebirge-Vogtland zuständig war, dann 1931/33 in Moskau lebte, wurde nach der Heimkehr mehrmals verhaftet und 1945 Bürgermeister von Mittweida.

Erich Loest hat Teile dieses Lebenslaufs übernommen. Sein Herbert Vogelsberg ist "Schutzhäftling", wird von der Pappefabrik in Mittweida als Schichtleiter reklamiert und fährt über Berlin, Riesa, Döbeln, Waldheim, wo er 1933/36 inhaftiert war, zurück in seine Heimatstadt. Er hat einen halbwüchsigen Sohn Joachim, der "Gefolgschaftsführer" in der "Hitler-Jugend" ist und in Schneckengrün/Vogtland zum "Werwolf" ausgebildet werden soll. Im Oktober 1945 wird er, wie zahllose Jugendliche mit ihm, verhaftet und ins Lager Mühlberg eingeliefert. Zwischen Vater und Sohn besteht eine ähnliche Konstellation wie im NS-Film "Hitlerjunge Quex" von 1933, wo der Vater Sozialist und der Sohn begeisterter Nationalsozialist ist.

Mit diesen 123 Seiten Prosatext bietet Erich Loest einen Aufriss seiner Heimatstadt vor und nach der Zeitenwende vom 8. Mai 1945. Das ist ein so gewaltiger Stoff, dass es für einen Roman gereicht hätte, den der Autor in seinem Todesjahr aber nicht mehr schreiben konnte oder wollte. Da gibt es die örtlichen NS-Größen, die die Zukunft fürchten und über Nacht verschwinden. Da sind die Soldaten der "Roten Armee", die die Fabriken besetzen, um die Maschinen als Beutegut zu requirieren, die später irgendwo in der russischen Steppe verrotten. Da sind die Kommunisten, die aus der Illegalität auftauchen, deren Zahl aber bei Weitem nicht an die der erstarkenden Sozialdemokraten heranreicht. Und da ist der Genosse Horst Sinderich, dem späteren SED-Politiker Horst Sindermann nachempfunden, der elf Jahre im Zuchthaus Waldheim verbracht hat und nun fröhliche Reden hält über die sozialistische Zukunft.

Es ist ein unglaubliches Panorama einer sächsischen Kleinstadt, das hier vor dem Leser entfaltet wird: Da wird ein polnischer "Fremdarbeiter" aufgehängt, weil er gegen "deutsche Gesetze" verstoßen hat. Da werden englische und kanadische Kriegsgefangene in Eilmärschen aus dem schlesischen Sagan nach Mittweida getrieben, offensichtlich ist hier das Offizierslager 1940/45 in Colditz bei Leipzig gemeint. Da werden NS-Uniformen umgefärbt und NS-Bücher verbrannt. Niemand traut dem anderen in dieser Umbruchszeit. Schließlich wird Herbert Vogelsberg, Nachkriegsbürgermeister von Mittweida, nach Döbeln versetzt, wo er SED-Kreisvorsitzender wird.

Erich Loest "Lieber hundertmal irren", Erzählung, 128 Seiten, Steidl-Verlag, 16 Euro