Coburg - Die Seele gleitet durch den Gang. Welch ein Gedrängel heute hier im Raum. Gepflegte Überbevölkerung? Sie kennt das ja eigentlich schon. War über vier Milliarden Mal hier. Hier im Himmel, dritte Etage, vierte Tür links. Da, wo sie zu tun hat. Wo ihre letzten beiden Inkarnationen so toll geklappt haben. Und nun eine neue Aufgabe auf sie zukommt: Eine dreiköpfige Familie, die im Leben so gar nicht zusammenpasste und der Seele jetzt auch nicht in den Kram passt. "Die sind ja furchtbar", entfährt es ihr, doch im Himmel ist dies der falsche Ton: "Entschuldigung, sie stellen eine Herausforderung für mich da, der ich mich vielleicht nicht gewachsen fühle", stottert sie. Nützt nichts, das Helferprofil stimmt zu 98 Prozent überein, sie muss ran.

Skurril, schräg und witzig klingt die Kurzgeschichte "Himmlische Aufgaben" des aus Schwaben stammenden Autors Stefan Kunzke. Zusammen mit Dirk Mestmacher, seit der Spielzeit 2014/15 Tenor am Coburger Landestheater, gestaltet er, laut Programmankündigung, einen "lautleisen Abend aus Text und Gesang" mit dem Titel "Vielfältigkeitsirritationen". Doch es wird mehr als "lautleise" und irritierend in der Reithalle des Landestheaters. Und es sind nicht einfach nur knapp zwei Stunden mit Text und Gesang. Kunzke und Mestmacher nehmen ihr Publikum mit auf die Reise. Durchs Leben, durch den Alltag, durch Freude, Schmerzen, Glück, Leid und Trauer. Und das literarisch schräg und höchst vergnüglich, doch mit Tiefgang. In Kunzkes Kurzgeschichten und Gedichten trifft man auf Otto Normalverbraucher. Blumenreich, detailliert und Adjektiv-betont beschreibt er die Menschen. Was nebensächlich erscheint, skizziert er nicht nur, nein, er schildert es minuziös. Die Frisur des Geigers findet Erwähnung, "Haare, ein loser Knoten am oberen Hinterkopf zusammengebunden", doch ebenso ausführlich beschäftigt er sich mit den Gefühlen. Ein Wirbel, ein Strudel aus widersprüchlichen Empfindungen und Gemütsbewegungen zieht die Zuschauer in Bann. Es ist fast unheimlich still in der Reithalle, unterbrochen wird die Stille durch Lachen. Lachen, das einsetzt, wenn der Text zum Überraschungsmoment, zur Wende, ansetzt. Wenn der ältere Mann, der in der Kirche ein Konzert besucht, durch gefühlt "missbilligende Blicke des Hageren neben ihm" sich durchschaut fühlt. Die Vergangenheit in ihm hochbrodelt. Der Schmerz. Der Verlust seines geliebten Partners. Hans. Mit dem er nicht richtig leben durfte. Mit dem er Verstecken spielen musste, denn Schwulsein gehörte sich nicht. Und nun ist er seit zwei Jahren tot. Der alte Mann schreit, brüllt sich den Kummer von der Seele, mitten im Konzert. Und: Erntet Lächeln.

Im Publikum fühlt man sich, als wäre man "live" dabei. Kunzke geht auf Augenkontakt, spricht die Lauschenden konkret und eindringlich an, "wissen Sie?", "das verstehen Sie doch", "es macht Ihnen nichts aus?"

Die Fortführung seiner Ideen und Gedanken übernimmt Dirk Mestmacher auf musikalische Weise. Köstlich kokett singt er sich "in die Herzen der stolzesten Frauen", lässt es, im wahrsten Sinn des Wortes bei einer Dame aus der ersten Reihe, "rote Rosen regnen" und erinnert mit "Over the Rainbow" an Judy Garland. Seine Musikauswahl ist passend, sie schlägt die Brücke und Verbindung zwischen Literatur und Gesang, verlängert den roten Text-Faden, der sich weiterschlängelt und fortspinnt. "One more Day" führt die Trauer fort. Trauer über einen Menschen, der vielleicht der Prinz des Lebens war. Doch jetzt ist er tot. Und vorher musste das Paar sich selbstverwirklichen, Freiheit leben. Kinder? Nein! Haustiere? Nein! Zurück bleibt nur der Wunsch nach einem weiteren gemeinsamen Tag.

Englisch, deutsch, spanisch, Chanson, Schlager, Klassiker, Modernes, Dirk Mestmacher deckt ein sehr breites musikalisches Spektrum perfekt ab. Auch wortgewaltig zeigt er sich im "Kurzgedichten-Duell" mit Stefan Kunzke. Schlag auf Schlag geht es hin und her. These, Antithese, Freude, Leid, witzig, nachdenklich, man stellt sich Fragen, wundert sich, schmunzelt, denkt nach, fühlt sich wohl, dann unbehaglich, kurzum "irritiert". Und so geht am Ende der begeistert beklatschten Veranstaltung auch des Autors abschließender Appell in Erfüllung: "Denken Sie dran: Immer schön irritiert bleiben!"

Stefan Kunzke

Stefan Kunzke wuchs auf dem Land in Schwaben auf und tanzte bereits mit sieben Jahren Ballett. Er studierte in Mannheim Tanz und Tanzpädagogik und ging als Solist nach Lüneburg. Seit fast 20 Jahren leitet er das "Partss - Performing Arts Studio" in Bielefeld. In den vergangenen Jahren setzte er immer dichter Sprache und Tanz in Beziehung, so dass das Schaffen eigener Texte zur logischen Konsequenz wurde.

Dirk Mestmacher

Dirk Mestmacher wurde in Hildesheim geboren, studierte Schauspiel in Hamburg und absolvierte eine Musical- und Gesangsausbildung. Seit der Spielzeit 2014/2015 ist er festes Ensemblemitglied des Landestheaters Coburg und stand unter anderem als Professor Higgins ("My Fair Lady"), Knusperhexe ("Hänsel und Gretel"), Erster Jude ("Salome") und Pedrillo ("Die Entführung aus dem Serail") auf der Bühne.