Meiningen - Das Leben von Goethes Frauen dürfte der interessierten Öffentlichkeit in Literatur und Film sattsam nahegebracht worden sein. Dass jetzt noch ein Bühnenstück das Angebot bereichert, wirkt auf den ersten Blick befremdlich. Auf den zweiten Blick erscheinen die Motive des Autors Martin Walser jedoch einleuchtend. In Meiningen kam die von Walser selbst erarbeitete Thea-terfassung seines vor zwei Jahren erschienenen Romans "Der liebende Mann" am Freitag zur Uraufführung. Inszeniert hat Ansgar Haag, der Intendant des Meininger Theaters, der in Darmstadt vor Jahren bereits Walsers "Die Ohrfeige" auf die Bühne gebracht hatte.

Eine Frau im Leben Goethes steht im Schatten der illustren Gesellschaft um den Dichterfürsten, ob-wohl es ohne sie keine "Marienbad-er Elegie" gäbe: die junge Ulrike von Levetzow, die der alternde Genius während eines Kuraufenthalts in Böhmen kennenlernte. Viel weiß man über Ulrike nicht und wie konkret die gegenseitige Zuneigung tatsächlich war. Es gibt nur die Aussage einer Großnichte Ulrikes, die Tante habe noch auf dem Sterbebett angeordnet, ein Bündel Briefe zu verbrennen und ihr die Asche, in einer Kapsel verschlossen, in den Sarg zu legen. Es sollen Goethes Briefe gewesen sein.

Was an Walsers Interpretation des Liebesverhältnisses Dichtung und Wahrheit ist, tut nichts zur Sache. Zum einen wollte der Schriftsteller eine verdrängte Persönlichkeit jenseits der Weimarer Hofgesellschaft ins rechte Licht rücken. Zum zweiten ging es ihm darum, (wieder einmal) eine Liebe zu thematisieren, die noch immer gern an den Rand gedrängt wird, nämlich die zwischen höchst unterschiedlich alten Partnern. Ulrike war 19, Goethe knapp 74 Jahre alt. Walsers Roman schildert die zarte Annäherung der beiden in lebensnahen und erfrischenden Dialogen und Briefen und in zu Herzen gehenden inneren Monologen des alternden Mannes. Der satirische Seitenblick auf die noble Gesellschaft gehört ebenso dazu wie das souveräne, pfiffige Auftreten der jungen Frau und die unvermuteten Selbstzweifel des alten Mannes. Dass sich in der Handlung die Lebensthematik des Goethekenners Walser mehr spiegelt als die verbürgte Tatsache, ist selbstverständlich. "Erzählen ist ein Entblößungsverbergungsspiel. Ich kann viel mehr aus mir herausgehen, wenn ich mich als Goethe darstelle", bekennt der 83-jährige.

Figuren erwachen

Wie kann eine solch diffizile und intime Romanhandlung auf der Bühne umgesetzt werden, ohne peinlich oder langweilig zu wirken? Man muss sie stark verdichten und gleichzeitig die Kulisse, also die gesellschaftliche Atmosphäre im Hintergrund, lebendig werden lassen. Sonst ersticken die Charaktere an ihren eigenen bedeutungsvollen Worten. Das Wunder geschieht: Ohne jeden Theaterdonner erwachen die Figuren zum Leben, auf anrührende und - was die Gesellschaft im Hintergrund betrifft - auf vergnüglich-ironische Weise. Goethes Sekretär Stadelmann (brillant gespielt von Renatus Scheibe) wendet sich immer wieder einmal mit seiner Sicht der Dinge ans Publikum und wird damit zum unaufdringlichen Moderator. In jedem Winkel der Handlung spürt man das Einvernehmen des Inszenierungsteams, des Autors, des Regisseurs, des Dramaturgen und der beiden Bühnen- und Kostümbildner. Bernd Dieter Müller und Annette Zepperitz schufen eine wolkenleichte rein-weiße Kulisse mit nicht mehr als einem Bogenbrückchen und einer genialen mobilen Spiegelwand, durch die die Außenwelt nach innen und die Innenwelt nach draußen dringt. Zudem lassen sich die Wände aufklappen und geben dann den Blick frei auf den jeweiligen intimen Wohnraum der beiden Hauptpersonen.

Goethe und Ulrike sind im wahren Sinn des Wortes ein Paar, wie es in Walsers Buch steht. Man ist geneigt, Peter Bernhardt und Josephine Fabian zum Traumpaar der Meininger Theatersaison zu küren. Die wun-derbar geistvollen Dialoge, die klei-nen Gesten, die widersprüchlichen Empfindungen, - die zerbrechliche, ja bereits verletzte Selbstgewissheit des Genius und die spielerische Lust der "Contresse", die Natürlichkeit der Etikette vorzuziehen - das alles macht das Zusehen und Zuhören zu einem Erlebnis. Der dramaturgisch gut durchdachte Wechsel zu den gesellschaftlichen Ereignissen lockert die Szenen auf, vor allem dank der alten Komödianten Ulrich Kunze (Her-zog Carl August), Michael Jeske (Dr. Rehbein), Roland Hartmann (Klebelsberg) und Hans-Joachim Rodewald (Sternberg). Nicht zu vergessen Evelyn Fuchs als Ulrikes Mutter und Gegenspielerin Goethes.

Man kann von einer kongenialen Umsetzung des Romanthemas sprechen und ist erstaunt darüber, wie selbstverständlich Ansgar Haag die Geschichte bei sich selbst lässt, und sich nicht am Gewicht der Bedeutungen verhebt. "Der liebende Mann" braucht keine Symboltracht. Goethe und Ulrike sprechen für sich - und zielen gerade dadurch auf unsere verkapselten Fantasien von Liebe und Begierde. Und das Erstaunlichste an dieser Inszenierung: Sie kommt ganz konventionell daher, ohne Projektion, ohne Abstraktion, ohne zeitübergreifende Symbolik. Gerade deshalb glaubt man den Menschen aufs Wort. Kein Augenblick der Langeweile - eine große Stunde am Meininger Theater.

Die nächsten Vorstellungen in den Meininger Kammerspielen: 8., 10. und 29. Oktober, 30. Dezember, jeweils 19.30 Uhr. Kartentelefon 03693/451 222 o. 451 137. www.das-meininger-theater.de