Coburg - "Flöhe eines erhitzten Geistes" sah Heinrich Heine wild durch die literarischen Labyrinthe des Jean Paul hüpfen. Vernichtend geriet ihm auch das Urteil über die Romanfiguren seines fabulierwütigen Kollegen: "Alle diese Gestalten schleppen eine närrisch lange Nabelschnur mit sich herum und verwickeln und würgen sich damit."

Mancher, der sich im Sog des Jean-Paul-Jahres 2013 redlich, aber erfolglos bemühte, Zugang zum skurrilen und sprachmächtigen Werk des notorischen Abschweifers zu finden, mag Trost bei Heines Generalverriss finden. Der schrullige Spätromantiker aus dem Fichtelgebirge, der einige Jahre in Coburg lebte, schrieb und trank, er polarisiert die Szene nach wie vor, womöglich mehr denn je. Sein Werk zeugt Schmäher und Verehrer.

Dr. Reinhard W. Heinritz zählt zur Fraktion derer, die der Faszination Jean Pauls beizeiten erlegen sind. Titel wie "Die unsichtbare Loge oder die grüne Nachtleiche ohne den 9ten Nusknaker" stimulierten seine Neugierde schon während seines Germantistikstudiums - und daran hat sich bis dato nichts geändert.

Zum 250. Geburtstag 2013 war er "wieder einmal bei ihm hängen geblieben" - und zwar nachhaltig: Aus einem Vortrag sind zwei geist- und genussreiche Bände geworden, die der Rödentaler Germanist pünktlich an Jean Pauls 253. Geburtstag am Montag im Coburger Kunstverein vorstellte. Musikalisch begleitet wurde sein "Schmetterlingsflug über einige Texte von Jean Paul" von Michael Ebert, der am Flügel den romantischen roten Faden des Abends aufnahm mit Auszügen aus Robert Schumanns Klavierzyklus "Papillons".

Der Saal des Kunstvereins, den derzeit Arbeiten von Gerd Kanz schmücken, erwies sich als trefflicher Rahmen, denn die aufwendig gestalteten, im Coburger Resch-Verlag erschienenen Bücher bieten neben textlichen auch bildnerische Reflexionen: Claus Tittmann, renommierter Keramiker, Grafiker und Bildhauer aus Berndorf bei Kulmbach, ergründet mit seinen Radierungen und Zeichnungen das Wesen des Fantasten und Visionärs. Vom "Siebenkäs" ließ er sich zu einer Serie von Bronzereliefs inspirieren, plastische Szenen des Ehekriegs zwischen dem poetisch veranlagten Armenadvokaten Siebenkäs und seiner putzsüchtigen Lenette.

Aberwitzig sind sie wohl, diese typisch Jean Paul'schen "Blumen-, Frucht- und Dornenstücke" über Ehestand und Tod - doch sind wir nicht alle ein bisschen Siebenkäs? Reinhard W. Heinritz warnt jedenfalls vor der eigenen Betriebsblindheit, wenn er anmerkt, das Leben sei ja wohl "manchmal noch bizarrer - und kitschiger" als Jean Pauls Fantastereien.

Und so schickt er sich an, kundig, unterhaltsam und erfreulich unakademisch den satirischen Geist des Dichters zu vermessen, dessen Sicht auf die Welt und ihre Insassen, kurzum sein Menschenbild zu analysieren. Charakteristisch ist für Heinritz Jean Pauls Perspektivenwechsel zwischen "Wurm- und Adlerblick", zwischen dem ärmlichen, aber frohgemuten Schulmeisterlein Maria Wutz und dem verbitterten Überflieger Gianozzo in seinem Luftschiff. Die Fallhöhe zwischen Makro- und Mikrokosmos, Erhabenem und Lächerlichem nährt auch den Humor: "Er ist für Jean Paul nichts anderes als eine Verbindung von hohen und niederen Gefühlen."

So geht es in den zwölf "Lesungen", die Heinritz im Band "Ich bin ein Ich" versammelt, um Angst und Endlichkeit, um eine "Kindheit mit Gespenstern" und um "kleine Zänkereien". Jean Pauls Ouevre liest der Autor als einen "beschwörenden Totentanz, "hinter allem steht der Tod" - aber auch Indizien für eine Auferstehungshoffnung findet er zwischen den Zeilen.

Unorthodoxe Pfade zum unorthodoxen Dichter bahnt Heinritz im zweiten Band "Menschenleben", zu dessen Ausgangspunkt er einen dicken Jean-Paul-Brocken erkoren hat, den "aufzudröseln" ihn reizte. Eine recht verquaste Passage aus den "Biografischen Belustigungen" wird zum Material literarischer und typografischer Experimente: Auf originelle Weise variiert der Autor Jean Pauls blumige Betrachtungen über Poesie und Wahrheit, Ernst und Scherz, und stellt sie in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang.

Damit nicht genug: Er holt sie samt ihrem Urheber in die Gegenwart. Der krasse Dichter wird zum Gegenstand einer jugendlichen "Plauderei im Auto", die eine utopische Dynamik entwickelt, die Jean Paul gefallen dürfte: Auf einer Autobahnraststätte begegnen wir einem "schrägen Typ mit aufgeschwemmter Visage", der unter dem Genuss zweier Biere mittels Gänsefeder hurtig seinen Gedankenstrom zu Papier bringt. Womöglich ist Herr Richter alias Jean Paul ja gerade auf dem Weg ins Hörfunkstudio, um in der Sendung "Oberfränkischer Parnaß" vom "Weltall der Empfindungen" zu fabulieren. Neben diesem "Interview" birgt der Band "Menschenleben" auch ein "Gespräch mit dem Kenner" names H*** - kein Schelm, wer dahinter Reimhard W. Heinritz selbst vermutet - , der uns einige Schlüssel zum komplexen Werk des "Dichters des Innehaltens" liefert. Zum Beispiel diesen: "Handlungen sind bei Jean Paul oft sekundär; manchmal kann man sie eigentlich in der Pfeife rauchen."

Reinhard W. Heinritz: "Ich bin ein Ich", ISBN 978-3-944237-17-6, 24,80 Euro, "Menschenleben", ISBN 978-3-944237-15-2, 14,80 Euro

All meine Schreiberei ist eigentlich innere Selbstbiographie.

Jean Paul


Der Autor

Der gebürtige Hofer Reinhard W. Heinritz studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in Erlangen, Hull/England und Salzburg. Seine Tätigkeit als Gymnasiallehrer für Deutsch und Englisch in Lichtenfels, Bamberg und Coburg unterbrach er zwecks Habilitation; es folgten Lehrtätigkeit an der Universität Bamberg und ehrenamtliche Betreuung des E.T.A.-Hoffmann-Hauses in Bamberg. Neben seiner pädagogischen, wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit widmet er sich gemeinsam mit Carola Rückert der Galerie "Hyazinth - Schöne Künste im Garten e.V." in Rödental.

www.reinhard-heinritz.de