Sonneberg - Es muss vor etwa 70 Jahren gewesen sein, als ein kleiner Junge aus Oberlind bei Sonneberg gemeinsam mit seinen Freunden beschlossen hatte, ein Floß zu bauen, die heimische Steinach hinab- und irgendwie über Main, Rhein, Nordsee und Atlantik nach Indien zu schippern. Zwar endete die Reise nicht weit hinter einer alten Steinbrücke, aber die große Welt blieb dem kleinen Jungen nicht verschlossen. Tankred Dorst, Autor, Dramaturg, mehrfacher Literaturpreisträger ist ein Schwergewicht deutscher Sprache. Am Donnerstagabend hat ihn die Stadt Sonneberg zu ihrem Ehrenbürger gemacht.

"Während die meisten deutschen Stückeschreiber seiner Generation Literaten sind, die die Bühne erobern wollen, ist Dorst ein Mann des Theaters, der für seine szenischen Einfälle den literarischen Ausdruck sucht", hatte ihn schon 1967 Marcel Reich-Ranicki charakterisiert. Scharfzüngig erkannte der Kritiker als einer der ersten Dorsts große Kunst. Dramaturg am Coburger Landestheater war der Berufswunsch des Unternehmersohns aus dem thüringischen Oberlind. Das dürfte die Schulkollegen erstaunt haben, weniger die Familie, denn der Großvater war ein ungewöhnlicher Unternehmertypus.

Berufswunsch Dramatiker

Kein Wunder also, dass der Jugendliche nach Krieg und Enteignung der väterlichen Fabrik in der sowjetischen Besatzungszone Dramatiker und Autor wurde - und was für einer. Jungforsch bekannte Dorst, er habe als Schüler gedacht, Dramatiker würden die Stücke der großen Literatur zu Ende schreiben. Ganz unrecht hatte er damit nicht. Denn Dorst, ganz "Mann des Theaters" ist bis heute auf der Bühne zu Hause. Ob in frühen Jahren das Puppentheater, später das "psychisch-realistische Menschentheater" der 70er Jahre oder der Umgang mit Märchen und Mythen in seiner jüngsten Schaffensphase, für ihn ist das Theater die Welt an sich. Zunächst war es ausgerechnet das immer etwas belächelte Puppentheater, das den jungen Dorst begeistert. Marionetten waren eben Marionetten, die keinen eigenen Willen haben, die sich ganz dem Dramaturgen unterordnen müssen. Nach den Traumata der Kriegs- und Nachkriegszeit kam ihm diese Kunst-Welt sehr gelegen, um seine Themen auszudrücken.

Eigentlich sind es ja nicht Themen, sondern es ist ein Thema, das Dorst immer wieder interessiert - der Mensch und sein Leben. "Wie soll man leben?", lautet die Frage, die Dorst immer wieder stellt. Es ist der Mensch in seiner Zeit, sei es der Revolutionär Ernst Toller, die autobiographisch geprägten Persönlichkeiten in seinen "Deutschen Stücken" oder gar die Menschen in der zeitversetzten Welt des "Rings", den er vor einigen Jahren in Bayreuth inszenierte, der sich der Zeit, der Welt, der Politik stellen muss. "Ich bin geboren in einem Dorf am Thüringer Wald, auf der fränkischen Seite. . .", erklärte Dorst 1978 in seiner oft zitierten Vorstellungsrede für die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Das Bekenntnis zu seiner Heimat spiegelt sich in den "Deutschen Stücken" wider, in denen er seine Familiengeschichte mit der Zeit zwischen Weimarer Republik und Deutscher Teilung spiegelt.

Lokaler Hintergrund

Der örtliche Hintergrund ist deutlich und in und um Sonneberg wird viel über die Präsenz von Lokalhistorie (nach-)geforscht und spekuliert. Die Bürgerstochter, die als einzige im Ort KPD wählt, gab es dort ebenso, wie auch das Kindermädchen belegt ist. Aber eine Heimat-Geschichte sind die "Deutschen Stücke" trotzdem nicht. "Theater ist für mich eine Art Experiment: der immer wieder unternommene Versuch, den jetzt lebenden Menschen mit dem, was ihn bewegt, was ihn ängstigt, was er schafft, und was ihn begrenzt, auf der Bühne sichtbar zu machen", schreibt Dorst. Da lässt er im Drama "Auf dem Chimborazo" (1975) die Familie, die an der Grenze zur DDR einen Berg besteigen, um den daheimgebliebenen "drüben" mit einem Feuer Zeichen der Liebe zuzusenden, ihre Konflikte austragen. Der "Chimborazo" ist der Muppberg zwischen Oberlind und Neustadt bei Coburg und die Familie, die dort hinaufsteigt, streitet, desillusioniert sich. Am Ende bleibt nur Schweigen. Da ist sie wieder, die zeitlose Frage: "Wie soll man leben?" Dorst stellt sie. Es ist sein Anteil an der Weltliteratur und ein Stück Weltliteratur spiegelt sich so auch in der kleinen Welt um Oberlind, die sogar einen Chimborazo kennt und in der eine Floßfahrt nach Indien möglich ist.