Der Mann versteht zu leben, ein Genießer, sieht man gleich. Rundlich, freundlich, locker sitzt er in der Coburger Thalia-Buchhandlung und nimmt es der Hörerschar überhaupt nicht übel, dass sie so klein geraten ist. Ziemlich klein, für einen „Tatort“-Kommissar a. D.

Aber nicht als kauziger TV-Ermittler Max Palu ist er unterwegs, sondern als preisgekrönter Krimi-Autor Jochen Senf. Sprachmächtig zieht er sein Publikum hinein ins mysteriöse Geschehen seines neuen Romans „Nichtwisser“, lockt es ganz nah heran an Abgründe des Menschseins. Und er verrät sogar ein wenig, wie die Sache ausgeht: „Tote ohne Ende! Ein anarchisches Finale!“. Da lacht der Autor, und der Hörer grübelt: War das jetzt schelmisch oder diabolisch?

Und Satz um Satz erhärtet sich der Verdacht, dass es nicht bloß ein krimineller Schalk sein kann, der Jochen Senf im Nacken sitzt und seine Feder führt. Sondern die blanke Wut. Auf die Starken, die Schwäche ausnutzen. Auf die Skrupellosen, die kein Mitgefühl kennen. Auf die Mächtigen und ihren Zynismus. „Manchmal hab ich eine Wut im Bauch, dass ich‘s kaum aushalte“ bekennt der 65-Jährige.

Und darum ist sein neues Buch nicht bloß eine spannende Fiktion, sondern eine flammende Anklage gegen feige Gewalt. Ob sie hinter gutbürgerlichen Familienfassaden wütet oder in abgeschotteten Flüchtlingslagern, ist für Senf nicht maßgeblich: „Die Auswirkungen auf die Opfer sind identisch“. Darum führt er in „Nichtwisser“ die beiden Themen zusammen: Folter und häusliche Gewalt.

Dass es dabei nicht nur um körperliche Verletzung geht, erfährt Fritz Neuhaus, der Ich-Erzähler des Romans, schon als Kind: Die sexuellen Annäherungen der eigenen Mutter traumatisieren ihn fürs Leben. Bald flieht er nach Berlin, wo er sich treiben lässt und eines Tages einer geheimnisvollen Schönheit begegnet. Sie ist Interpol-Agentin und weiß viel, womöglich zuviel über die Vorgänge in einem Flüchtlingslager nahe Saarbrücken. Fritz Neuhaus gerät in den Sog einer mörderischen Geschichte...

Einer Geschichte, deren Basis Jochen Senf nicht erdichtet hat: „Ich schreibe aus dem vollen Leben. Erfindungen langweilen mich“ versichert der Autor. Akribisch hat er einen Skandal recherchiert und, weil es mit der TV-Reportage nicht klappte, diesen Roman daraus gebaut: Den Fall einer Berliner Polizeipsychologin, die durch ihre Gutachten die Abschiebung traumatisierter Kriegsflüchtlinge betrieb. „Sie hatte sadistische Lust am Erzeugen von Panik. Selbstmorde nahm sie in Kauf“ zitiert Senf aus Protokollen. Sie lägen ihm ebenso vor wie ein Lob-Brief des damaligen Berliner Innensenator Jörg Schönbohm an die Polizeipsychologin, versichert Senf. Beklemmend schildert er die Situation Asyl Suchender in deutschen Abschiebelagern. Und ebenso zornig klagt er an, was außerhalb der Zäune geschieht, wo 2 Millionen Kinder unter Hartz-IV-Bedingungen leben müssen und jedes fünfte Kind Therapie bedürftig ist: „Seelenmord, menschlich gesehen eine Sauerei“ zürnt Jochen Senf.

Seit Langem schon engagiert sich der prominente Schauspieler und Autor deshalb gegen häusliche Gewalt. Und der Sohn des honorigen saarländischen Universitätsprofessors und Finanzministers Otto Senf macht keinen Hehl daraus, woher seine Sensibilität für dieses Thema rührt: „Mein Vater war Sadist“.

Jochen Senf: Nichtwisser. Gmeiner-Verlag Meßkirch. 2007.9,90