Und wo warst du? Es gibt historische Ereignisse, bei denen jeder, wirklich jeder, der sie bewusst erlebt hat, diese Frage noch nach Jahrzehnten genau beantworten kann. Der 11. September 2001, an dem die Twin Towers in New York zum Einsturz gebracht wurden, ist ein solches Ereignis. Und natürlich der 9. November 1989, der Tag der berühmten Schabowski-Pressekonferenz, der Tag, an dem die Mauer fiel, die Deutschland und Europa jahrzehntelang geteilt hatte. Jeder hierzulande, der das damals miterlebt hat, weiß noch ganz genau, was er an diesem und an den Folgetagen gemacht hat, wo er war, was er empfand. "Und wo warst du? 30 Jahre Mauerfall", so heißt aus naheliegenden Gründen ein neues, sehr empfehlenswertes Buch, das die Bürgerrechtlerin, Regisseurin und Autorin Freya Klier herausgegeben hat. Es umfasst in drei Abteilungen, die sich mit der Zeit vor, während und nach dem Fall der Mauer befassen, insgesamt 23 Erinnerungsstücke aus Ost und West, die sich in vielen unterschiedlichen Facetten dem Thema nähern.

Berthold Dücker zum Beispiel war in Kassel. 25 Jahre zuvor war er als 16-Jähriger mutterseelenallein aus Geismar, einem Dorf in der Thüringer Rhön, mitten im Sperrgebiet gelegen, in den Westen geflohen, war später Journalist geworden und lebte 1989 in Nordhessen, wo ihn just in jenen Tagen der friedlichen Revolution sein 80-jähriger Vater als DDR-Rentner besuchen durfte. Beide sahen gemeinsam im Fernsehen die unvergessliche Pressekonferenz.

Kurz darauf machen die beiden gemeinsam mit Dückers Ehefrau Melitta eine Spritztour, ohne dem alten Herrn zu sagen, wohin die Reise geht. Über das hessische Philippsthal ins thüringische Vacha nämlich, wo der Vater Angst bekommt, festgenommen zu werden, bis in die Heimat, auf den Hof in Geismar. Und dann wieder ohne Komplikationen zurück nach Kassel.

Etwas später kehrt auch Berthold Dücker ganz in seine Heimat zurück, als Chefredakteur der Südthüringer Zeitung . Warum und wie er dann für "Point Alpha", die Gedenkstätte am ehemals heißesten Ort im Kalten Krieg, kämpfte, das bildet den Schwerpunkt seines Beitrags in dem Sammelband.

Ebenfalls aus dem Sperrgebiet, aus Steinach bei Sonneberg, stammt Birgit Siegmann. Unter dem Titel "Meine Oma, das Sperrgebiet und ich" erzählt sie eine Geschichte zwischen Angepasstheit, Angst und Aufbruch. Und sie bilanziert: "So groß das Aufatmen nach dem 9. November auch war, so schmerzlich war die persönliche Auseinandersetzung mit der DDR. Ich habe mich an der Erziehung zur Lüge beteiligt, in einem menschenverachtenden System." Offene Worte.

Anrührende Worte findet Freya Kliers Tochter Nadja, die ganz bewegend von einer Freundschaft und einer Trennung mit beachtlichen Folgen - und vom Sichwiederfinden - erzählt. Uwe Spindeldreier, früherer Regierungssprecher in Thüringen, erklärt: "Ich war ein kalter Krieger". Die ehemalige RAF-Terroristin Astrid Proll berichtet, wie sie die ehemalige RAF-Terroristin Inge Viett, die nach dem Zusammenbruch der DDR dort enttarnt und verurteilt worden war, im Gefängnis in Magdeburg besucht, und der Dresdner Günter Henschel erklärt, warum er und sein Freund nicht immer, aber regelmäßig bei Pegida mitmarschieren.

Es geht um die unsagbare Angst im DDR-Knast und den Aufbruch mit dem Neuen Forum, um Alltag und Wahnsinn, um das Graue und das Bunte, um die Sicht des Ostens auf den Westen und die des Westens auf den Osten. Am Schluss fasst Thüringens langjähriger Ministerpräsident Bernhard Vogel seine extrem spannende Zeit im Freistaat zusammen. Und er wiederholt dabei sein nach wie vor zutreffendes Bonmot: "Es gab ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen - ein Ministerium für gesamtdeutsche Antworten gab es nicht."

Freya Klier und ihren Autorinnen und Autoren ist zum 30. Jahrestag ein überaus facettenreiches, gut geschriebenes, lesenswertes Buch gelungen. Das Schlusswort an dieser Stelle soll einer haben, der selbst nie in der DDR war, solange dort Grenzzaun und Mauer standen. Der Journalist und Theologe Johannes Röser bilanziert: "Was im Herbst 1989 geschah, war nicht ganz von dieser Welt, wenn man die gewöhnlichen logischen Maßstäbe dieser Welt anlegt. An diese Spannung immer wieder mal zu erinnern, muss nicht der schlechteste Dienst an der Einheit Deutschlands sein, zugunsten der Fähigkeiten seiner Bürgerinnen und Bürger das Geistige selber zu denken und so jene Mauer in den Köpfen zusammenstürzen zu lassen, die materialistisch das Geistige abweist. Solcher immerwährende Mauerabbruch ist immer auch ein Arbeiten gegen die Banalitäten des Lebens, gegen die Lüge. Ausbruch und Aufbruch. Das ist es, was Menschen in Ost und West bei aller Fremdheit gemeinsam hoffen lässt: Sehnsucht nach Heimat. Vielleicht sogar nach Heimat über diese Heimat hinaus?"

Freya Klier (Hg.): Und wo warst du? 30 Jahre Mauerfall. Herder-Verlag, Freiburg 2019. 270 Seiten. 20 Euro.