Der Jugend eine Chance: Einige Stipendien hat er schon erhalten, auf der Studiobühne des Wiener Burgtheaters wurde bereits ein Stück von ihm aufgeführt, ebenso an der Berliner Schaubühne am Leniner Platz. Vor einem Jahr haben die Münchner Kammerspiele im Rahmen ihrer äußerst verdienstvollen Förderung junger, verheißungsvoller Autorinnen und Autoren dem 1981 in Toronto geborenen, in Stuttgart aufgewachsenen John Birke eine Auftragsarbeit vergeben. „Armes Ding“ heißt das Ergebnis, das im Werkraumtheater nun seine umjubelte Uraufführung erlebte.

Eigentlich sind es ja drei Minidramen, die (mit den Titeln „Glaube“, „Liebe“ und „Arbeit“) zu einem Ganzen zusammengeschnürt wurden und letztlich durch Felicitas Bruckers einfallsreiche und ungemein zupackende Regie sowie die großartigen schauspielerischen Leistungen den Erfolg der etwas kruden Textvorlage gewährleisteten. Höchst unterschiedliche Arten von Opferbereitschaft stellt John Birke hier vor: Zunächst eine junge Frau, die sich 80 Kilogramm Sprengstoff um den Leib bindet, um – mit den Worten „Jemand muss es ja tun. Warum nicht ich?“ – eine Moschee in die Luft zu jagen, wobei Hunderte von Menschen sterben. Ein Selbstmordattentat einer „bis dahin braven Durchschnittsdeutschen“ (wie der Autor die Täterin charakterisiert), die ihr Verbrechen als – wenig überzeugende – „vorbeugende Maßnahme gegen die terroristische Gewalt vermeintlich radikaler Muslime“ ausführt, wie John Birke seiner „Heldin“ attestiert.

Im 2. Stück heiratet eine Frau, begleitet von sensationslüsternen Boulevardreportern und quotengeilen Talkshows, einen Mann, der bei einer Explosion ein türkisches Mädchen gerettet hat und dabei verstümmelt wurde. Sie opfert sich hingebungsvoll für ihn auf, während im 3. Stück ein neuer Service als ganz anderer, reichlich makabrer Opferdienst boomt: Frauen stellen sich gegen Bezahlung zur Verfügung, um von anderen Menschen, hauptsächlich Männern natürlich, beschimpft, gequält, gefoltert und verprügelt zu werden. Der Zynismus dabei: Die Opfer verdienen bei ihrer Dienstleistung gutes Geld, während die Täter ihre Frustrationen los sind. Eine Katharsis, eine reinigende Wirkung, durch die – wie zumindest der Autor meint – die Welt allemal besser werden kann…

Als Spiegelbilder unserer kaputten Gesellschaft mit ihren seelisch reichlich deformierten Menschen will John Birke diese Minidramen verstanden wissen, deren bisweilen allzu papiernen Dialoge Felicitas Brucker als Regisseurin jedoch durch die radikale Darstellung all der physischen und psychischen Gewaltausbrüche ungeheure Vitalität einhauchte. Rau und ruppig geht es auf der mit drei Waschstellen (für Leib und Seele), viel Krimskrams an den Wänden (als überflüssiges Gerümpel dieser Welt), einer Leuchtstoffröhre (als Reckstange zum Abreagieren der Aggressionen) und großflächigen Polsterelementen (zum Abfedern all der tätlichen Angriffe) symbolisch ausgestatteten Bühne von Dorothea Curio zu. Von Konversation, gar einem intellektuellem Gedanken- und Meinungsaustausch keine Spur. Stattdessen: hysterische Brüllattacken, gellende Wutschreie, kreischende Emotionsausbrüche sowie massive sprachliche und körperliche Übergriffe. Ein 70-minütiges Trommelfeuer von an die Nieren gehenden Gewaltorgien, in denen neben Lena Lauzemis und Edmund Telgenkämper vor allem Sylvana Krappatsch in den Rollen der verblendeten Sprengstoffattentäterin, der masochistischen Krüppelpflegerin und des geprügelten Dienstleistungsopfers großartig agiert. Eine Uraufführung für Theatergänger mit starken Nerven.

Nach Sekunden der Betroffenheit spendete das Premierenpublikum allen Beteiligten, selbst dem Autor, frenetischen Applaus.

Weitere Aufführungen am 15. und 30. Dezember; Kartentelefon: 089 / 233 966 00.