Coburg - Die Wurzeln des Rap liegen in den USA - und ein wenig auch in Oberfranken: Lange bevor der rhythmische Sprechgesang aus den Großstadtgettos Amerikas über die Welt kam, eroberte er von Coburg aus die bayerische Schultheaterszene - durch eine "Sprechoper" in fünf Akten über eine verlorene Sehhilfe. Gemeinsam mit ihren Schülerinnen am Gymnasium Alexandrinum schrieb Anneliese Reiter-Rath 1955 "Die Brille" als Parodie auf antike Dramen - und setzte fortan häufig auf rhythmisierte Texte: "Die lassen sich leicht lernen, gefallen den Jugendlichen kolossal und wirken stark aufs Publikum."

"Die Brille" brachte frischen Wind ins - sofern überhaupt vorhanden - beschauliche Schultheater der 50er-Jahre und markiert den Beginn einer Erfolgsgeschichte: Fünf Jahrzehnte lang steckte Anneliese Reiter-Rath nicht nur junge Menschen mit ihrer Theaterbegeisterung an und gab dem Schüler- und Amateurtheater neue Impulse - und neues Material, das deutschlandweit auf die Bühnen kam. Acht Stücke liegen jetzt in Buchform vor, herausgegeben von Barbara Reiter, die die Werke ihrer Mutter mit deren Anregungen für die Praxis, Presseartikeln, Illustrationen von Robert Reiter und persönlichen Erinnerungen ehemaliger Mitwirkender rahmt.

Zu ihnen zählt die erfolgreiche Krimi-Autorin Ella Danz, die den ungewohnt lebendigen Unterrichtsstil schildert, mit dem "diese neue Deutschlehrerin" in den späten 60er-Jahren die bislang als dröge verpönten Klassiker durch Stegreifspiele spannend machte: "Jeder konnte seine Meinung äußern, Vorschläge machen, niemand wurde untergebuttert, aber wir akzeptierten gerne die natürliche Autorität unserer Theaterleiterin."

Die Begeisterungsfähigkeit der Pädagogin ist auch der Journalistin und Musikerin Annette Hopfenmüller in bester Erinnerung: "Sie schaffte schnell eine Atmosphäre des Wollens, des Etwas-Bewegens - und sie schaffte auch eine Atmosphäre von Kunst". Als Befreiung von der provinziellen Enge im Coburg der 70er-Jahre erlebte die heutige Filmemacherin Sybille Stürmer den "wichtigsten Termin der Woche": die Probe der 1977 von Anneliese Reiter-Rath gegründeten VHS-Theatergruppe: Hier wurden "wir aufgefordert, den Reichtum in uns selbst Ausdruck zu geben". Nachhaltig davon profitiert hat auch Rolf Schilling, der 2005 selbst als Theaterpädagoge die Leitung des Ensembles übernommen hat: "Anneliese hat in mir die Freude am Theaterspielen geweckt." Inhaltlich faszinierte ihn "die Verbindung von Rhythmus, Sprache, Musik, Ausdruck und Handlung".

Während sie mit der VHS-Gruppe meist Stücke aus fremder Feder, oftmals zu aktuellen politischen Themen, inszenierte, verfasste Reiter-Rath die Stücke fürs Schultheater selbst - im Teamwork mit ihren Schülern: "Ich hatte gemerkt, dass die Kinder unheimlich viele Ideen haben, aber keinen Sinn für den Aufbau von Stücken." So entwickelte sie dramaturgische Gerüste, die ihre jungen Spieler mit Inhalt füllten. Das konnte ein Krimi im Warenhaus sein ("Der Hut"), eine Moritat über die Kunst des Streitens ("Die Räuber") oder eine ironische Auseinandersetzung mit Coburger Herzogtümelei ("Albert und Victoria oder Der Sog der Vergangenheit").

Zum "Schlüsselerlebnis" wurde ein Reiter-Rath-Gastspiel bei den Schultheatertagen in Bamberg 1969 für ihren Kollegen Thomas Röttger, der danach fast alle ihrer Stücke mit Schülern inszenierte: "Das ist pädagogisches Theater ohne Zeigefinger, Erziehung zu subtilem Geschmack."

Der knapp 300-seitige Band "Anneliese Reiter-Rath: Stücke für das Schultheater" ist in der Coburger Buchhandlung Riemann zum Preis von 20,- erhältlich.

Wir wurden aufgefordert, dem Reichtum in uns selbst Ausdruck zu geben.

Sybille Stürmer über Anneliese Reiter-Raths Theaterarbeit


Vita

Anneliese Reiter-Rath wurde 1930 in Freiberg/Sachsen geboren. Der Weg der Familie führte über Bad Klosterlausnitz nach Heidenheim a. d. Breu und schließlich 1948 nach Lauf a. d. Pegnitz.

Parallel zu ihrem Germanistik-Studium in Nürnberg und Freiburg/Br. (1949-53) studierte sie am Nürnberger Konservatorium Querflöte und schulte ihre Sprechtechnik an der Opernschule Domgraf-Faßbender. Von 1955 an belebte sie als Lehrerin am Coburger Gymnasium Alexandrinum das Schultheater in Coburg. Nach der Heirat mit de Kunsterzieher Robert Reiter gab sie den Lehrerberuf auf, um sich ihrer Familie und dem Laientheater zu widmen. Sie leitete ab 1963 Theatergruppen an Gymnasien der Region und von 1977 bis 2005 die VHS-Theatergruppe Coburg, zählte zu den Gründern des Coburger Theatervereins und prägte die Reihe "Jugend spielt für Jugend".