Prag - Seit mehr als 40 Jahren lebt der weltberühmte Schriftsteller Milan Kundera in Frankreich. Seit 1981 hat er die französische Staatsbürgerschaft. Seit 1993 schreibt der Sprachwanderer auf Französisch. Und doch hat den 89 Jahre alten Romancier nun wieder einmal seine tschechische Herkunft eingeholt.

Es begann mit einem Besuch des tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babis in Paris zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs. Wie andere Regierungschefs vor ihm stattete Babis dem bekanntesten lebenden Exil-Tschechen einen Besuch ab. Weniger diskret als seine Vorgänger, tat Babis seine Begeisterung in den sozialen Internetmedien kund.

«Das ist ein Erlebnis für das ganze Leben», schrieb der 64-Jährige. Er habe Kundera und dessen Ehefrau nach Tschechien eingeladen, wo die beiden lange nicht gewesen seien. «Ich denke, dass sie die tschechische Staatsbürgerschaft, die sie nach der Emigration verloren haben, verdient hätten», merkte Babis an, wohl ohne zu ahnen, dass er damit eine Debatte lostreten würde.

Die Behördenmaschinerie in Prag setzte sich in Bewegung. Schnell kam heraus: Die Staatsbürgerschaft bekommt man nicht einfach so zurück, auch nicht als Milan Kundera. Man muss sie beantragen. «Soweit ich weiß, hat Kundera die tschechischen Behörden niemals um etwas gebeten», sagt der französische Politologe Jacques Rupnik.

Die sozialistischen Machthaber in der damaligen Tschechoslowakei hatten Kundera 1979 ausgebürgert - als Reaktion auf den systemkritischen Roman «Das Buch vom Lachen und Vergessen». Da lebte der in Brünn (Brno) geborene Autor, bis 1970 selbst Mitglied der kommunistischen Partei, bereits vier Jahre in Frankreich.

Selbst nach der demokratischen Wende von 1989 blieb Kundera in Tschechien «abwesend», wie einmal ein Kritiker anmerkte. Die Beziehung seines Heimatlands zu dem Starautor ist kompliziert. Vor wenigen Jahren tauchten Vorwürfe auf, Kundera habe in den 1950er Jahren einen Kommilitonen an die Kommunisten verraten. Er wies dies entschieden zurück. Eine Pariser Zeitung veranlasste das damals zu der überspitzten Frage: «Warum hassen die Tschechen Kundera?»

Der Romanistik-Professor Petr Kylousek von der Universität Brünn sieht den Grund für den Konflikt im Bemühen des Schriftstellers um «Weltläufigkeit». Kunderas Emigration nach Frankreich sei nicht nur politischer, sondern auch literarischer Art gewesen. Er habe Paris als Weltmetropole erobern wollen, was ihm auch gelungen sei.

«In den 1990er Jahren hat er zur großen Enttäuschung vieler in Tschechien dann nicht die von ihm erwartete Rolle des großen Sohnes der Nation gespielt, der nach Hause zurückkehrt», erklärt Kylousek. In Frankreich habe Kundera sich bemüht, den Stempel des Dissidenten, des «Zeugen der Unfreiheit im Osten» abzuschütteln - und sich «als Literat und nur als Literat» durchzusetzen.

Für ihn sei Kundera heute ein Weltautor, wenngleich mit tschechischen Reminiszenzen, meint auch ein anderer Experte, der Bohemist Bohumil Fort. «Der tschechische Leser spürt, dass sich der Schriftsteller nicht ganz normal zu ihm verhält, und das kann zu einer gewissen Spannung und zu Unverständnis führen», sagt er.

So erschien Kunderas erfolgreichster Roman «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von 1984 erst im Jahr 2006 in Tschechien, obwohl keine Übersetzung erforderlich war. Das «Buch des Lachens und Vergessen» blieb Lesern in Tschechien sogar bis 2017 vorenthalten. Doch dürfte dies die Neugier und das Interesse des Publikums erst recht geweckt haben, meint Fort.

Die Frage nach der Identität des Exilanten hat Kundera indirekt einmal selbst beantwortet. Über die, so wie er auch, in Brünn (Brno) geborene und in Frankreich lebende Vera Linhartova schrieb er: «Wenn Vera Linhartova auf Französisch schreibt, bleibt sie dann eine tschechische Schriftstellerin? Nein. Wird sie zu einer französischen Schriftstellerin? Wieder nein. Sie ist woanders.»

Über den Autor selbst, der äußerst selten Interviews gibt, weiß man nach dem jüngsten Besuch des tschechischen Ministerpräsidenten in Paris jedenfalls nur wenig mehr. In der Wohnung der Kunderas habe ihn eine Lampe in ihren Bann gezogen, auf der «Je m'en fous» - etwa: es ist mir egal - gestanden habe, berichtete Babis. Ob Kundera die Diskussionen in Tschechien mit ähnlicher Gelassenheit wahrnimmt?