München - Aus Pappkartons fischt sie ihre Erinnerungen heraus: Briefschaften in hübsch verschnürten Kladden, aber auch Kleider, Schuhe und Hüte. Dokumente ihres Lebens aus Ingolstadt, Regensburg, München, Berlin und wieder Ingolstadt. Vor neun Jahren, zum 100. Geburtstag von Marieluise Fleißer, widmete die 1956 in Stockheim geborene, mit Stücken wie "Das glühend Männla", "Amiwiesen" oder "Carceri" seit 1989 wie ein Komet am Theaterhimmel aufgestiegene Kerstin Specht den Monolog "Marieluise oder Die Rückseite der Rechnungen" postum der Ingolstädter Dichterin.

Einen "Bericht" nannte die mit vielen bedeutenden literarischen Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin, Filmemacherin und Dramatikerin, die an der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen studiert hat, etwas tiefstapelnd diese Hommage auf ihr großes Vorbild im Untertitel. Denn weniger einen nüchternen Bericht als eine ebenso warmherzige wie äußerst kenntnisreiche Collage über Leben und Werk, über Erfolge und Misserfolge, über die kleinen Freuden und manch große Demütigungen der 1901 in Ingolstadt geborenen und 1974 dort verstorbenen Marieluise Fleißer schrieb Kerstin Specht in diesem Ein-Personen-Stück nieder, das 2001 an den Münchner Kammerspielen mit großem Erfolg uraufgeführt wurde.

Fesselndes Portrait

Aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Interviews und autobiographischen Schriften "der größten Dramatikerin des 20. Jahrhunderts" (Elfriede Jelinek) entwarf die oberfränkische Autorin ein fesselndes Porträt einer seelenverwandten jungen Frau, die aus der provinziellen Enge ausbrach und als Studentin in München sich aufmachte, Schriftstellerin zu werden. In kurzen, knappen, aber höchst eindringlichen Szenen lässt Kerstin Specht hier die wichtigsten Stationen des äußeren und inneren Lebens dieser Marieluise Fleißer Revue passieren: Vom Aufwachsen im kleinbürgerlichen Milieu und der von Verboten geprägten Erziehung im Regensburger Internat, ihrem Schwärmen für fesche Soldaten ("mit und ohne Bein") und den ersten Schreibversuchen unter der Bettdecke.

Als Studentin der Theaterwissenschaften in München erste Novellen verfassend, trifft sie auf Lion Feuchtwanger und den jungen Bert Brecht, die ihr Talent entdecken, sie fördern und ihr erstes Stück "Fegefeuer in Ingolstadt" im Jahre 1926 auf die Bühne bringen. Brecht provoziert daraufhin bekanntlich in Berlin mit ihren "Pionieren in Ingolstadt" den größten Theaterskandal der Weimarer Republik, während sie wegen "Nestbeschmutzung" zu Hause verachtet und geächtet wird und auch privat einige Niederlagen verschmerzen muss. Unter Schreibverbot gestellt und von Depressionen geplagt, führt sie in den Nazi-Jahren, die sie sarkastisch als "ganz gewöhnliche Vorhölle" bezeichnete, das Tabakwaren- und Schnapsgeschäft ihres wenig sensiblen Mannes, um auch nach 1945 von den Theatern und Verlagen vergessen zu bleiben.

Fleißer-Renaissance

Erst als ihre "Söhne" Rainer Werner Fassbinder, Martin Sperr und Franz Xaver Kroetz in den 1960er Jahren den kritischen Realismus wiederentdeckten, beginnt die Fleißer-Renaissance, die ihr bis zu ihrem Tod im Jahre 1974 ein bisschen Genugtuung bereitete und späten Ruhm brachte.

In Alois-Michael Heigls erfreulich zurückhaltender, sensibler Regie zeigt Dascha Poisel im hübschen neuen Münchner Oblomow-Theater mit seinen Bistro-Tischchen und Thonet-Stühlen die mädchenhafte Scheu und die Suche nach Orientierung der jungen Marieluise, die Freude über die ersten schriftstellerischen Erfolge und die menschlichen Enttäuschungen über Bert Brecht und die späteren Beziehungen höchst einfühlsam auf. Und die erfolgreiche Absolventin der renommierten Münchner Otto-Falckenberg-Schauspielschule lässt die Sehnsüchte, Ängste und die Gefühle dieser innerlich zerrissenen Dichterin ebenso offenkundig werden, wie sie selbstbewusst und burschikos den Trotz, aber auch die Zweifel und Selbstzweifel dieser Marieluise Fleißer darlegt, ohne je ins Auftrumpfende oder Sentimentale abzugleiten. Dazu singt Dascha Poisel, 1966 in Kassel geboren, in Kronach aufgewachsen, zur Gitarre Lieder vom großen Bertolt Brecht, der die Dichterin aus Ingolstadt gedemütigt hat und von dem sie innerlich trotzdem nicht loskam. Ein ebenso empfindsamer wie vitaler, ein anrührender und packender Theaterabend, verfasst und gestaltet von zwei Schauspiel-Koryphäen aus Oberfranken.

Weitere Aufführungen im Münchner Oblomow-Theater, Hans-Sachs-Str. am 15., 16., 22. und 23. April; Kartentelefon: 089 / 32 19 55 33.