Coburg – Ihn schnöde einen Autor zu nennen, wäre für einen Geist wie Edwin Kratschmer ihn besitzt, wahrlich zu wenig. So viel hat sein Leben geprägt, dass er sich nicht auf das Eine beschränken konnte und wollte. Er war Landarbeiter, Lehrer, Kunsterzieher, Galerist, Freiberufler, Gymnasialdirektor, Kunst- und Literaturwissenschaftler und auch: Herausgeber, Intellektueller, Schriftsteller, Philosoph, Förderer, Bewahrer und Moralist. In seinen Büchern setzt er sich immer wieder mit dem Erlebten auseinander, so manches hat bei Kratschmer autobiografische Züge.

Am Samstagnachmittag stellte er, gemeinsam mit seinem Verleger Friedhelm Berger (UND-Verlag) und seiner Lektorin Heike Rode, im Kunstverein Coburg zwei neue Werke vor: Die Erzählungen „Blaurausch“ und den Roman „Doppelhalsgeige“, mit dem er, wie er überraschend erst an diesem Tag erfuhr, für den deutschen Buchpreis vorgeschlagen wurde.

Kratschmer, der 1931 im Böhmischen Komotau geboren wurde, erlebte als Kind den 2. Weltkrieg und überlebte als 14-Jähriger den sogenannten Todesmarsch der Komotauer Männer. Nach Ableistung von Zwangsarbeit als „Deutscher“ bis August 1945 in Pschan und Nehranice wird Edwin Kratschmer nach Thüringen evakuiert. Er studiert Kunst, Literatur und Psychologie und heiratet 1953 seine Frau Margret. Sein Leben ist geprägt von Kriegserlebnissen, vier Staatsbürgerschaften, Zwangsarbeit, Flucht und drei Diktaturen. In der DDR stand er ständig im Visier der Staatssicherheit.

Über sein Schreiben sagte er einmal: „Ich schreib halt und schreib, als läg längst alles vor mir ausgeschüttet und ich brauch es nur noch einzusammeln, und ich schreib, gejagt von der Furcht, nicht alles aufgeschrieben zu haben, bevor es sich wieder verflüchtigt hat und auf ewig weggetaucht ist.“ Genauso liest sich sein Werk, wortgewaltig, vielschichtig und oft abgrundtief. Eine Sprache, die einem unter die Haut geht und betroffen macht.

In „Blaurausch“ offenbart Kratschmer in zehn Erzählungen das Leben zwiespältiger Randexistenzen in einer Diktatur. Intellektuelle, die ihr Leben verspielt haben: Ein Lehrer entdeckt erschreckt seine Dunkelseiten (Lehrer Läpple). Einen anderen holt die Vergangenheit ein und wendet ihn zum Informanten (Fimms Ende). Ein Autor verbrennt nach gescheiterter Ehe sein Lebenswerk (Fellers Fluchten) und ein Farbforscher verfällt in Blaurausch (Blaurausch). Ein Sohn rekonstruiert den Freitod seiner Mutter (Meergang) und ein Künstler liefert seinen „Zwilling im Geiste“ ans Messer (Borderline). „Nichts ist faszinierender als ein sich entblößender Mensch“, fasst Kratschmers Verleger Friedhelm Berger zusammen. Die Texte so sagt er „lesen sich fast wie Fallbeispiele“ (Edwin Kratschmer hat auch Psychologie studiert).

Nicht umsonst wählt Kratschmer den Titel „Doppelhalsgeige“ für seinen Roman über den an Leib und Seele lädierten Kriegsheimkehrer Ernst Fall. Das mittelalterliche Folterinstrument „Doppelhalsgeige“, ähnlich wie ein Pranger konstruiert, zwang streitende Bürger dazu, sich gegenüberstehend solange auseinander zu setzen, bis wieder Frieden zwischen ihnen herrschte. Auch die Hauptfigur Ernst Fall will sich mit seiner Vergangenheit auseinander setzen und betreibt schonungslose Selbstbefragung auf der Couch eines Psychiaters. Als lädierter Kriegsheimkehrer will er nun wissen, wie habe ich nur überlebt? Ernst Fall will ein Gutmensch werden, will Frieden mit sich machen, doch er schafft es nicht und bleibt in der Doppelhalsgeige stecken. Aus dem „Ernstfall“ wird schließlich ein Todesfall.

Zwar versucht er sich noch als Lehrer in einem bürgerlichem Leben, aber es gelingt ihm nur ein kurzes Glück. Fall verzweifelt an der Diktatur. Jahrzehnte später macht sich sein Sohn Markus auf die Suche nach seinen Eltern. Er erfährt: der Vater hat sich aus der Welt gebrannt, die Mutter wurde aus der Welt geräumt.

Hauptthema des teilweise autobiographischen Romans sind die sieben Todsünden – Hass, Gewalt, Neid, Terror, Hochmut, Völlerei und Wollust. Sie beherrschen das Zusammenleben der Menschen. Im Neben- und Hintereinander der Generationen kommt es fortdauernd zu Rang- und Ringkämpfen, Schlamm- und Grabenkriegen.

Beide Bücher werden auf der kommenden Buchmesse als Topwerke des Verlags vorgestellt. Besonders auffallend ist die Titelgestaltung von „Doppelhalsgeige“, die nach einem Holzschnitt des Künstlers Ali Kurt Baumgarten aus dem Jahre 1932 gestaltet ist. „Sie haben mich betroffen gemacht und das finde ich gut und wichtig“, fasste Joachim Gosslar, 1. Vorsitzender des Coburger Kunstvereins, abschließend seine Eindrücke der Lesung passend zusammen. Einziger trauriger Nebeneffekt der rund um gelungenen Buchvorstellung, war die geringe Anzahl der Besucher, die zur Lesung gekommen waren. Vielleicht lag es an dem unglücklich gewählten Termin? Valentinstag, dass es gerade einmal zehn Literaturbegeisterte zur Buchvorstellung schafften.