Coburg - Heinrich Vogelers berühmtes Worpswede-Bild zeigt einen sommerlichen Konzertabend vor dem Barkenhoff, wo sich der erfolgreiche Jugendstilkünstler ein durchgestaltetes Refugium geschaffen hatte. Alle sind da: Paula Modersohn-Becker mit ihren Freundinnen Agnes Wulf und Clara Rilke-Westhoff; hinter ihnen steht der Maler Otto Modersohn. Sie lauschen den Musizierenden: dem Flötisten Martin Schröder, dem Geiger Franz Vogeler und Heinrich Vogeler am Cello. In der Bildmitte des monumental-symmetrischen Gemäldes: Martha Vogeler, die Frau des Malers mit dem russischen Windhund Karla. Gemalt hat es Vogeler 1905. Das Gemälde wird in Oldenburg in der Nordwestdeutschen Kunstausstellung gezeigt, wo der Maler mit der Großen Medaille für Kunst und Wissenschaft ausgezeichnet wird. "Das Konzert" gilt als Krönung seiner ersten Schaffensperiode.

Nicht auf dem Bild zu sehen ist der Dichter Rainer Maria Rilke, der doch seit 1898 mit zur Barkenhoff-Familie gehörte. Rilkes Gedicht "Licht ist sein Loos / ist der Herr nur das Herz und die Hand / des Bau's mit den Linden im Land / wird auch sein Haus / schattig und groß", das er zum Weihnachtsfest 1898 geschrieben hatte, ließ Heinrich Vogeler als Haussegen in die Eingangstür des Barkenhoffs einkerben. Die drei Paare Rilke, Modersohn und Vogeler heirateten im Jahr 1901. Was war geschehen, dass der Maler Rilke nicht auf dem Bild verewigte?

Dieser Frage geht der Germanist und Romancier Klaus Modick in seinem Bestseller "Konzert ohne Dichter" nach. Auf Einladung des Coburger Literaturkreis e. V. versetzt er, den "genius loci" des Coburger Kunstvereins nutzend, mit seiner Lesung viele aufmerksame Zuhörer in die Zeit um 1900, in die berühmte Künstlerkolonie im Norden. Der Autor entspinnt seine "chronique scandaleuse" um die fragile Freundschaft von Heinrich Vogeler zu Rainer Maria Rilke. Manchem Mythos, allen voran Rilke, hält Modick in seiner Fiktion mit Hintersinn den Spiegel vor.

Für seine Coburger Lesung wählt Klaus Modick zuerst jene Passage, in der Rilke, den Vogeler einige Jahre zuvor in Italien kennengelernt hatte, zum ersten Mal in dessen vornehmen Bremer Patriziervilla zu Gast ist. Gediegene Großbürgerlichkeit zum Weihnachtsfest ist angesagt, und Rilke, angetan mit einer weinroten Krawatte "als Ausdruck seines Künstlertums" (Modick) sitzt neben Vogelers Schwester Henny, die den Dichter anhimmelt, und einer ebenso korpulenten wie schwerhörigen Tante aus Schwanewede. Rilke, der sich durch den freiwilligen Verzicht auf Fleisch und Alkohol argwöhnischen Blicken und der Frage "Sie sind wohl Temperenzler, Herr Rilke?" (Angehöriger einer Abstinenzbewegung) ausgesetzt sieht, schlägt sich wacker, deklamiert schließlich ein Gedicht aus einem schmalen Bändchen mit dem Titel "Advent", welches er als Geschenk mitgebracht hat. "Man war durchaus ergriffen!", setzt Modick der unfreiwillig komischen Szene noch eines oben drauf.

Rilke, sich selbst "unter vorbehaltlosen Genieverdacht" stellend, ist danach zu Gast im Barkenhoff. Als er versehentlich die Teetasse fallen lässt, legt der Autor Rilke "Die Dinge des Alltags sträuben sich gegen den Umgang mit mir!" in den Mund. Mit unzähligen feinen Strichen (und Stichen) zeichnet Klaus Modick ein Bild jener Tage, in der sich Künstlertum zwischen rauschhafter Verklärung der Natur und des Künstlerseins selbst einerseits und dem Streben nach Erfolg - auch materiellem - andererseits bewegt.

Nicht zuletzt geht es um das Künstlerleben: Steht die Kunst für Künstler über allem? Darf der Künstler ausschließlich seinem Innern folgen und dabei Menschen, die ihm nahestehen, verletzen? Was passiert, wenn sich befreundete und ehemals gleichgesinnte Menschen auseinanderleben?

Klar wird dies: Es menschelt. In der letzten Passage, die Klaus Modick aussucht, trifft man sich zu einer der legendären Abendgesellschaften auf dem Barkenhoff. Rilke sitzt zwischen Clara Westhoff und Paula Becker, die ihn beide anhimmeln. Martha Vogeler drapiert Hortensien. Es ist jener Septemberabend, den Heinrich Vogeler vier Jahre später malen sollte. Nach dem Konzert spricht die Künstlergesellschaft im Weißen Salon dem Wein zu, der Abend gerät etwas aus den Fugen und - Skandal! - Rilke verschwindet mit Clara Westhoff und (!) Paula Becker.

Autor Modick verleiht seinen Figuren zusätzliches Leben: spricht das Plattdeutsch der Dorfbewohner, lallt mit dem betrunkenen Carl Hauptmann, rezitiert vergeistigt mit Rilke. Ein Abend, der Lust gemacht hat, in die Welt von Worpswede und in die narrative Welt von Klaus Modick einzutauchen. Nicht zuletzt, weil hier an so manchem Mythos humorvoll gekratzt wird, ohne den Zauber, der bis heute von jener Zeit ausgeht, komplett zu zerstören.

Die Dinge des Alltags sträuben sich gegen den Umgang mit mir.

Klaus Modick in

"Konzert ohne Dichter"


Klaus Modick

Klaus Modick, geboren 1951, studierte Germanistik, Geschichte und Pädagogik. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt nach zahlreichen Auslandsaufenthalten heute wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Bettina-von-Arnim-Preis und der Nicolas-Born-Preis. Zu seinen erfolgreichsten Romanen zählen "Sunset" (2010), "Der kretische Gast" (2003) und "Vierundzwanzig Türen" (2000).