Klagenfurt/Oberfranken - Ihr erstes "Gedicht" war eine Kurzgeschichte. Die entstand, wie sie erzählte, "an einem grauen, fast stürmischen Rehauer Schultag". Da beauftragte ein Lehrer seine achtjährigen Zöglinge, ein Gedicht zu schreiben "über eine Sache aus der Natur". So früh hat, scheint es, Nora Gomringer ihre "Sache" gefunden: nicht die Natur; die Sprache. Die Sprache ist ihre Natur.

Schon vielfach wurde die umtriebige, in Wurlitz bei Rehau aufgewachsene Autorin für ihre Sprach- und ihre Sprechkunst geehrt. Nun kam die vielleicht bedeutendste deutsche Literaturauszeichnung hinzu, die man mit 35 Jahren erringen kann: Am Sonntag sprach die Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt ihr den prestigeträchtigen Hauptpreis und 25 000 Euro Dotation zu. Schon zuvor litt die Autorin, die seit 2010 das Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg leitet, keinen Mangel an öffentlicher Bestätigung: Als bis zum Wochenende jüngste Trophäe nahm sie heuer sogar eine "Medaille für besondere Verdienste um Bayern in einem Vereinten Europa" entgegen.

Jetzt, nach der Verleihung in Klagenfurt, bekannte sie: "Ich bin ganz benommen." Sie fühle sich "beschenkt". Die Jury der dortigen 39. "Tage der deutschsprachigen Literatur" entschied sich für ihren Text "Recherche", weil der Autorin damit ein überaus komplexes "Fantasiespiel", eine "Verstörungskomödie" gelungen sei, wie Sandra Kegel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in ihrer Laudatio rühmte. Gomringers selbstreflexive Prosa erzähle von der Suche nach Wahrheit und lebe von einem ständigen Wechsel der Perspektiven. So entstehe eine "einzigartige Stimmenpolyphonie" zwischen "irrem Tempo und Nachdenklichkeit".

Weithin Beachtung fand Gomringer nicht zuletzt durch den Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache, den sie 2008 erhielt. Der Satzung gemäß geht er an Personen, die sich "in besonderem Maß um die Anerkennung, Weiterentwicklung und Pflege des Deutschen als Kultursprache" verdient machen. In "besonderem Maße" trug und trägt Nora Gomringer dazu bei, die Poesie-Performance des Poetry Slams in Deutschland populär zu machen. Davon überzeugen kann sich der Freund zeitgemäßen Sprachspiels und Haken schlagender Wortakrobatik auf den CDs der Künstlerin - und natürlich bei ihren mitreißenden Live-Auftritten, immer mal wieder auch in der Region.

Wenn sie ihre "Sprechtexte" vorträgt und -singt und -raunt und -mault und -flüstert, entfalten die Worte Wildheit und Witz erst ganz. Dann gehören die verschmitzten Mund- und Mienenspiele, die ausholenden Arme und geweiteten Lungen ebenso unverzichtbar wie das Gesprochene selbst zum poetischen Erlebnis: Maulmelodien, Satzgesänge, Silbengewitter, Lauttheater.

Für Erzählendes wurde Gomringer in Klagenfurt ausgezeichnet; als Lyrikern aber versteht sie sich vor allem (siehe Interview unten). Dennoch gibt es seit jeher auch Prosa in ihrem Schaffen. In einem solchen Text, in dem "Nora Gomringer über Nora Gomringer" Auskunft erteilt - Titel: "SpiegelxelfeR" -, benennt sie "die "Benennbarkeit der Welt" als ihr "Anliegen". Das "Bild hinter dem Ding" will sie "in Begriffen des Fühlens erfahren und befestigen, allerdings ohne Verschwurbelung und nur dosiert besinnlich, bitteschön!"

Zum Sammelband "Mein Gedicht fragt nicht lange" steuerte kein Geringerer als der namhafte Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt das Vorwort bei. Eine "heitere, bewegliche Modernität ohne Verbissenheit" bescheinigt er ihr, das "unverwechselbare Timbre" einer "eigenen Stimme" und "bilderschaffende Kraft". Ein anderer Band Gomringers umreißt mit seinem Titel treffend ihre selbst gestellte Lebensaufgabe: "Ich werde etwas mit der Sprache machen". Das bedeutet: Sprache ist nicht nur ihr Mittel, auch ihr Zweck; so sehr wie um Aussage und vielleicht Botschaft geht es in den Lyrik- und Prosastücken ums Wortmaterial, das die Autorin im Kopf, schreibend in den Händen und wohl auch, während sie schreibt, schon mal im Mund dreht und wendet.

Zu all dem Guten, meint Peter von Matt, "trägt bei, dass es um die Liebe geht". Um Krankheit geht es in ihrem jüngsten Buch: "Morbus", diesmal ein schmaler Band, enthält 25 Stücke, ausgespannt zwischen "Adipositas" und "Aids" hier und dem tödlichen "Typhus" der Tagebuchschereiberin Anne Frank und ihrer Schwester Margot, dem "Wahnsinn" dort. Spielerisch, sogar übermütig unernst, immer aber geistreich baut sie Wörter, Zeichen und Bedeutungen zu schrägen oder frivolen oder makabren, aber auch zu bitter pointierten Reflexen eines verwirrend aufgeregten Lebens um.

Ihr aufgeregtes Leben begann zwar 1980 in Neunkirchen an der Saar. Aber bei Rehau wuchs sie auf. In einem ihrer Texte, wiederum einer Art Selbstauskunft, erzählt sie, dass sie "vier oder fünf war, als sie wusste, dass ihre Familie seltsam war". Nämlich die Familie des Rehauer Kunsthaus-Leiters Professor Eugen Gomringer. Ihm und der Mutter Nortrud ist sie "dankbar, dass sie auf eine gründliche Englisch-Ausbildung für mich achteten. Das vereinfacht die Kontaktaufnahme" - jene mit den Menschen, denen sie bei ihren zahllosen Reisen durch die Welt begegnet; und die mit den internationalen Stipendiaten in der Bamberger Villa Concordia.

In der Familie auch kam sie früh mit bildender Kunst in Berührung; bei der Musik "musste ich freilich dazulernen", wie sie in einem Interview mit der Frankenpost bekannte. Auf den Bamberger Chefposten hatte sie sich klassisch beworben, nachdem sie in der Presse ausgeschrieben worden war. Sie setzte sich gegen etwa 150 Konkurrenten durch.

Wer sich für die privaten Facetten der Nora alias Nora-Eugenie Gomringer interessiert, erfährt bei Facebook Aufschlussreiches: dass sie Filmmusik und Jazz mag; dass neben den "Gefährlichen Liebschaften" auch Horrorstreifen zu ihren Favoritfilmen gehören; dass sie im Fernsehen gern die "Muppet Show" sieht; dass sie nicht nur für die Rugby-Kämpen der New Zealand Maori, sondern ebenso für die SpVgg Wurlitz und die Selber Wölfe die Daumen drückt. Dass sie nicht nachlässt in ihren "Aktivitäten": "Sehr viel schreiben. Sehr viel lesen. Sehr viel reisen."