Kronach Vertrieben, vermisst und wiedervereint

Heike Schülein

"Totgeglaubter Sohn kehrt nach 17 Jahren heim": So lautete am 27. Juli 1962 die Überschrift in der Neuen Presse. Siegfried Merettig erinnert sich noch heute gut an die Zusammenführung mit seiner Familie in Weißenbrunn.

 
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Oberlangenstadt - Gedankenverloren betrachtet Siegfried Merettig im Atlas das Gebiet um Kaliningrad. Den Namen trägt die Stadt im Südosten der Halbinsel Samland erst seit 1946. Zuvor hieß sie Königsberg und war königliche Haupt- und Residenzstadt der Provinz Ostpreußen. 1945 fiel die weitgehend zerstörte Stadt nach schweren Kämpfen in die Hand der Roten Armee. Siegfried Merettig lebte damals als deutsches Kind mit seinen Eltern Franz und Gertrud Merettig und seinen drei Geschwistern Charlotte, Irmgard und Erika im Kreis Samland.

"Die Russen kamen in unser Haus und trieben meine Mutter, mich und meine drei Geschwister nach draußen", erinnert sich Siegfried Merettig an diesen kalten, schneereichen Wintertag. Sein Vater war damals in russischer Kriegsgefangenschaft. Die Frauen wurden in ein Lager mitgenommen, so auch seine Mutter. Die vier Kinder waren auf sich alleine gestellt. Siegfried war damals zehn Jahre alt; seine Schwester Charlotte eineinhalb Jahre älter, Irmgard und Erika waren jünger als er. "Wir versuchten uns durchzuschlagen", erzählt der nunmehr 85-Jährige von einer großen Hunger-Katastrophe im sowjetisch besetzten Ostpreußen. Die vier Geschwister bettelten um Essen und schlichen über die Höfe, um das aufzusammeln, was die Russen wegwarfen. Seine beiden jüngeren Schwestern starben bald, krank vor Hunger; Charlotte und er überlebten, wurden auf der Flucht aber getrennt.

Eine Möglichkeit, dem Verhungern zu entgehen, war die Flucht nach Litauen. Viele Kinder und Jugendliche wurden zu jener Zeit dort aufgenommen - manche aus Mitleid, oftmals aber, um sie als billige und rechtlose Arbeiter auf dem Feld auszubeuten. Siegfried Merettig kam bei einem Bauern in einem kleinen litauischen Ort bei Wilna unter, wo er von früh bis spät hart arbeiten musste. Sein Versteck im Stall wurde entdeckt, worauf er in einer Kolchose arbeiten musste - ein landwirtschaftlicher Großbetrieb in der Sowjetunion, der genossenschaftlich organisiert war. Jeden Tag musste er vom Bauernhof sieben Kilometer zur Arbeit laufen. Die Frau des dortigen Bürgermeisters war Deutsche und wollte ihm helfen. So arbeitete er bei den Pferden als Traktorist. Er verdiente zwei Rubel pro Tag - gerade genug, um zwei Flaschen Bier zu kaufen. Bei den Bauersleuten schlief er auf einem Strohsack in der Küche. "Ich war nur geduldet und gehörte nicht dazu", berichtet Siegfried Merettig, der keine Schule mehr besuchte und seine Muttersprache verlernte.

"1959 brachte der Postbote ein Kuvert zum Bauern und der erzählte mir, dass mich mein Vater und meine Schwestern suchten", erklärt er. Seine Schwester Charlotte konnte 1957 nach Weißenbrunn zurückkehren, wo der Vater inzwischen wieder geheiratet und aus der neuen Ehe drei Söhne hatte. Charlotte hatte ihrem Vater berichtet, dass die Mutter und die beiden jüngeren Geschwister ums Leben gekommen seien; sie aber Siegfried in einem Lager gesehen habe und dieser vielleicht noch lebe. Die Familie suchte nach ihm. 1959 brachte der Suchdienst des Roten Kreuzes die erste Nachricht aus Litauen. Lediglich ein Bild und einige wenige Briefe stellten den Kontakt her. Siegfried Merettigs Briefe musste ein Bekannter schreiben, da er ja kein Deutsch mehr sprach.

Viermal wurde sein Ausreise-Visum abgelehnt. Es kostete damals 4000 Rubel, was sehr viel Geld war. Dennoch bekam er das Geld zusammen. Ende Juli 1962 wurde er ins Grenzdurchgangslager nach Friedland, Landkreis Göttingen, gebracht. "Ich erinnere mich noch, wie wir vom Roten Kreuz eine Apfelsine und eine Banane erhielten", sagt Siegfried Merettig. Am 26. Juli 1962 traf das Telegramm bei seiner Familie in Weißenbrunn über seine Rückkehr ein. Gleichzeitig wurde der damalige Bürgermeister Alfred Pohl vom Roten Kreuz verständigt. Die Neue Presse wurde um Hilfe gebeten, um die Familie wieder zusammenzuführen. Zusammen mit Charlotte (verheiratete Pfleger) setzte sich die NP-Reaktion nach Friedland in Marsch, um den Verschollenen heimzuholen. Spät abends trafen sie in Weißenbrunn ein, wo sich Vater und Sohn seit 17 Jahren zum ersten Mal wieder sahen.

Der Vater schluchzte laut und umarmte ihn immer wieder, obwohl er seinen eigenen Sohn kaum mehr erkannte. Ein schwerer Schlag für den damals 27-Jährigen war dann die Mitteilung, dass seine Mutter tot war. "Ich dachte, dass die Frau auf den Familienbildern, die mir mein Vater geschickt hatte, meine Mutter ist", verdeutlicht Siegfried Merettig. Er verbrachte nach der Zusammenführung zwar die Wochenende in der Familie seines Vaters; fühlte sich aber stets "fremd". Unter der Woche besuchte er einen Förderungskurs in der Jugendheimstätte Buckenhof, nahe Erlangen.

Die Jugendheimstätte war für junge Vertriebene eingerichtet worden, die als Kinder bei Kriegsende ihre Eltern verloren hatten. Zwei Jahre war er dort, um wieder Deutsch zu lernen und sich auf eine neue Zukunft vorzubereiten. Er war damals der Älteste. Im Anschluss fand er Arbeit im Steinbruch, wo er Radlader fuhr. 1968 heiratete er seine aus Weißenbrunn stammende Ehefrau, Erika. Zunächst wohnten sie bei ihren Eltern, danach in Wallenfels. Schließlich kauften sie das kleine Haus in Oberlangenstadt, wo beide nunmehr auch ihren Ruhestand verbringen.

Nach der Öffnung der von Russland annektierten Oblast Kaliningrad war Siegfried Merettig noch mehrmals dort. Die Stadt wirke sehr gepflegt. Wenn er heute zurückblickt, überlegt er oft, wie sein Leben ohne den Krieg verlaufen wäre. "Uns wurde alles genommen", sagt er, "die Kindheit, die Jugend, die Familie!"

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