Hof Die erste Station in der Freiheit

Elfriede Schneider

Vor 30 Jahren trafen die Züge mit DDR-Flüchtlingen aus Prag in Hof ein. Bahnhofschef Robert Knieling erinnert sich an bewegte Zeiten - und an den Anruf bei Kanzler Kohl.

 
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Hof - Eigentlich hat Robert Knieling an dem Tag, an dem der Bahnhof Hof in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit rückt, gar keinen Dienst. Der stellvertretende Bahnhofsvorsteher ist gerade mit seiner Frau vom Urlaub im Schwarzwald zurück und hört daheim in den Nachrichten, wie Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher den Tausenden Menschen in der Prager Botschaft ihre Ausreise ankündigt.

Für Knieling ist in diesem Moment klar: Die Züge werden über Dresden fahren und in Hof als erster Station auf westdeutschem Gebiet ankommen. Der Bahnbeamte, der im zehn Kilometer entfernten Leupoldsgrün wohnt, setzt sich sofort ins Auto und fährt nach Hof zum Hauptbahnhof. Im Büro der Bahnpolizei findet sich spontan ein Einsatzteam zusammen: Außer Knieling sind leitende Beamte des Bundesgrenzschutzes, der Polizeidirektion Hof, der Leiter der Bahnpolizei und der Leiter der Regionalabteilung der Deutschen Bahn dabei. Der eigentliche Bahnhofsvorsteher war exakt zum 1. Oktober 1989 in Pension gegangen.

Für das, was auf sie zukommen wird, gibt es keine Erfahrungen und keine Anweisungen. Vieles ist ungewiss: Wann kommen die Züge an? Wie viele Menschen sind zu versorgen? Die Männer stellen sich vor, was jemand brauchen könnte, der wochen- oder monatelang in großer Enge in der Prager Botschaft ausgeharrt hat und tun das Menschenmögliche. Im kleinen Ruheraum am Bahnsteig 1 richten sie ein Ärztezimmer ein, die Kantine funktionieren sie zum Ruhe- und Versorgungsraum für Eltern mit Kindern um. Über Radio Euroherz bitten sie die Bevölkerung um Spenden: Obst, andere Lebensmittel und warme Kleidung werden gebraucht, glauben sie, denn viele DDR-Flüchtlinge sind bei warmem Wetter mit Sommerkleidung in die Prager Botschaft gekommen.

Die Hilfsbereitschaft der Hofer ist umwerfend. Innerhalb kürzester Zeit kommen mehrere Hundert ehrenamtliche Helfer von Rotem Kreuz, Technischem Hilfswerk, Diakonie und Caritas zum Bahnhof, die Kantine füllt sich mit gespendeter Kleidung.

Währenddessen wird Hof zum Ziel von Journalisten - Presse, Funk und Fernsehen sind da. "Die ganze Welt sollte das Eintreffen des ersten Flüchtlingszuges aus Prag miterleben", erzählt der heute 80-Jährige. Es herrscht gespannte Erwartung. Die Verantwortlichen wissen nur, dass der erste Zug mit den Flüchtlingen Prag bereits verlassen hat. Was unterwegs geschieht, erfahren sie erst später: Auf dem Gebiet der DDR gibt es wegen maroder Brücken zahlreiche Langsamfahr-stellen, wo die Züge teilweise nur mit zehn Stundenkilometern unterwegs sein können. Es kommt zu tumultartigen Szenen, weil DDR-Bürger dort versuchen, auf den Zug aufzuspringen und in den Westen zu fliehen.

Gegen halb drei in der Nacht erfährt Knieling von seinen Kollegen der Deutschen Reichsbahn in der DDR, dass der erste Zug am frühen Morgen den Bahnhof in Hof erreichen wird. Als auch bekannt ist, mit wie vielen Flüchtlingen zu rechnen war, planen die Verantwortlichen in Zusammenarbeit mit den Behörden und der Bundesbahndirektion Nürnberg die Weiterfahrt zu den Aufnahmelagern in Gießen, Hammelburg, Schwandorf, Coburg, Pocking und Nürnberg. Alle arbeiten unter größter Anspannung, aber routiniert und ohne Pannen.

"Der Zeiger der Bahnhofsuhr sprang auf 6.14 Uhr, als der erste Sonderzug zum Stehen kam", erzählt Knieling. "Ich habe nie so viele glückliche Menschen gesehen wie damals in den Abteilfenstern. Mir kamen die Tränen." Viele über Ungarn in den Westen geflohene DDR-Bürger waren eiligst nach Hof gekommen und warten am Bahnsteig auf Freunde und Verwandte. "Wildfremde Menschen fielen sich in die Arme, Tränen flossen in Strömen."

Die Organisation klappt hervorragend. Alle Flüchtlinge erhalten eine warme Mahlzeit, Obst und warme Kleidung. Fünf Sonderzüge mit jeweils 1200 Menschen kommen im Abstand von zwei Stunden in Hof an und können nach zwei Stunden zu einem der Aufnahmelager weiterfahren. In Windeseile haben die Mitarbeiter die Fahrpläne erstellt, viele sind zum Helfen gekommen, obwohl sie frei haben. Am Abend löst sich die Einsatzzentrale auf. Zwei Tage ohne Schlaf liegen hinter den Männern. "Wir verabschiedeten uns und sagten, dass wir uns aus dem gleichen Anlass hoffentlich nicht so schnell wiedersehen wollten", erinnert sich Knieling.

Aber es sollte anders kommen. Innerhalb von Stunden flüchten sich am Tag danach erneut mehr als tausend DDR-Bürger in die deutsche Botschaft in Prag. Die Mitarbeiter in Hof begreifen, was das bedeutet: Sie müssen erneut mit Sonderzügen rechnen. Diesmal jedoch, das wird schnell klar, will die DDR-Reichsbahn ihre Schnellzugswagen nicht wie am ersten Wochenende weiter ins Bundesgebiet fahren lassen, denn sie fehlen für die eigenen Fahrpläne.

In Absprache mit dem Bundesinnenministerium, dem Verkehrsministerium und der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn organisieren die Hofer etwa hundert Reisezugwagen aus dem süddeutschen Raum. Diese haben, aneinander gereiht, eine Länge von 2,6 Kilometern. Damit sie im Güterbahnhof abgestellt werden können, wird der Rangierbetrieb und der Güterverkehr auf das Notwendigste beschränkt. Wieder beginnt gespanntes Warten.

Am 4. Oktober, als die Hofer von 10 000 Flüchtlingen in der Prager Botschaft hören, trifft sich das bewährte Einsatzteam erneut, diesmal unterstützt von Staatssekretär Horst Waffenschmidt aus dem Bundesinnenministerium. "Auf Schritt und Tritt begegnete man Journalisten und Fernsehteams. Etwa 400 Zeitungsreporter und zehn Kamerateams hielten sich am Bahnhof auf", erzählt Knieling.

Nahezu stündlich informiert Staatssekretär Waffenschmidt bei einer improvisierten Pressekonferenz über den Stand der Dinge. Doch er kann von Stunde zu Stunde weniger mitteilen. Niemand kann in Erfahrung bringen, ob und wann die nächsten Sonderzüge nach Hof kommen. Gegen 2 Uhr in der Nacht meldete der Fahrdienstleiter von Gutenfürst, dem nächstgelegenen Bahnhof auf DDR-Gebiet, dass die Reichsbahn noch keine Sonderzüge von der Tschechischen Staatsbahn übernommen habe. Keiner in der Einsatzzentrale glaubt dieser Meldung.

Kurz vor 3 Uhr, also mitten in der Nacht, ruft Staatssekretär Waffenschmidt bei Helmut Kohl an und bittet, den Bundeskanzler wecken zu lassen. Die Dame im Bundeskanzleramt versucht vergebens, den Staatssekretär von seinem Vorhaben abzubringen. Nach Erinnerung von Robert Knieling verläuft das folgende Telefongespräch so: "Hallo Helmut, du weißt, wo ich bin. Entschuldige bitte, dass ich dich habe wecken lassen. Du musst uns helfen. Wir können nicht in Erfahrung bringen, wann die Sonderzüge aus Prag kommen. Ich kann die 400 Journalisten am Bahnhof nicht länger hinhalten. Wir denken, dass die Züge in Prag abgefahren sind. Veranlasse bitte, dass wir möglichst bald informiert werden."

Eine halbe Stunde später meldet der Fahrdienstleiter in Gutenfürst, dass von 5.30 Uhr an alle 20 Minuten ein Sonderzug mit jeweils 800 bis 1200 DDR-Bürgern in Hof eintreffen werde. Um die Züge in solch kurzen Abständen aufnehmen zu können, muss sehr schnell die gesamte Planung geändert werden. Die Bahnhofsmitarbeiter organisieren in Windeseile eine zweite Rangier-Abteilung, die vielen freiwilligen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen sorgen dafür, dass am Bahnsteig 1 eine Versorgung möglich ist. Innerhalb von zwei Stunden ist alles vorbereitet. Wegen Tumulten am Dresdner Hauptbahnhof verzögert sich die Ankunft, sodass der erste Zug am 4. Oktober um 6.30 Uhr ankommt. Wieder spielten sich ergreifende Szenen ab mit tränenreichen Umarmungen und der Suche nach Angehörigen. Nach kurzer Versorgung fahren die Züge weiter zu den Aufnahmelagern Ahrweiler, Alsfeld, Hannover, Lübeck, Bruchsal, Hammelburg, Paderborn und Deggendorf. "Gegen Mittag war die ganze Aktion beendet", erinnert sich Knieling. "Alle hatten hervorragend zusammengearbeitet. Am Bahnhof kehrte wieder Ruhe ein." Vorerst, denn der ganz große Ansturm sollte noch kommen - nach der Grenzöffnung am 9. November.

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