Geroldsgrün – Auch wer die Bücher von Günter Grass nicht gelesen hat, kennt wahrscheinlich die Verfilmung seiner „Blechtrommel“: Mit dem zwergenwüchsigen Oskar als Hauptakteur, der trommelnd eine Nazi-Kundgebung sprengt und beim Einmarsch der Wehrmacht den Tod seinen Onkels befördert. Günter Grass hat wie kaum ein anderer der großen Schriftsteller seine Kindheitserinnerungen zu Literatur gemacht. Er lässt in der Fantasie eine Welt auferstehen, die mit dem Kriegsende für immer untergegangen ist – die des Danziger Vorortes Langfuhr, wo Grass heute vor 80 Jahren das Licht der Welt erblickt hat.

In Danzig-Langfuhr wurde vor 80 Jahren auch Siegfried Reschke geboren, der in Geroldsgrün im Frankenwald lebt. Reschke wuchs gleich um die Ecke auf und besuchte dieselbe Grundschule wie Grass in einer von drei Klassen des Jahrgangs 1927. Aufgefallen ist ihm der Junge, der als Schriftsteller einmal weltberühmt werden sollte, allerdings nicht. Gut erinnern kann sich Reschke an den Hund, der dem Großvater von Grass, einem Schreinermeister, gehörte. Dieser reinrassige Schäferhund war im ganzen Viertel bekannt, einen seiner Nachkommen machte die Stadt Danzig Adolf Hitler zum Geschenk.

„Grass beschreibt die Atmosphäre unserer Kindheit sehr gut“, findet Reschke. „Das ist wie früher.“ Der Labesweg, wo der Dichter aufgewachsen ist, kommt in den Romanen vor, ebenso der Neue Markt, den die Nazis für ihre Aufmärsche nutzten und wo sich Jungvolk und Hitlerjugend trafen. „Zur Hitlerjugend musste man gehen“, erinnert sich der Geroldsgrüner. „Wenn man nicht hinging und dennoch zu Hause war, wurde man geholt. Wer sich drücken wollte, musste sich schon etwas einfallen lassen.“

Langfuhr, der Danziger Vorort, war eine Stadt für sich. 72 000 Menschen wohnten dort, darunter zahlreiche Polen und Kaschuben. Aus diesem westslawischen Volk kam die Mutter von Grass. Kaschuben waren es, die den Wochenmarkt beschickten, denn sie hatten traditionell kleine Bauernhöfe mit Enten, Gänsen und Hühnern. Diese kleinbürgerlich geordnete Welt mit ihrem friedlichen Nebeneinander geriet brutal durcheinander, als 1939 die deutsche Wehrmacht einmarschierte. Die Polen wurden vertrieben, die Kaschuben galten fortan als nicht erwünscht.

Diesen Teil seiner Kindheit hat Günter Grass in einem Interview mit der FAZ vor einem Jahr so beschrieben: „Der Krieg, das ist der Dreh- und Angelpunkt. Er datiert den Anfang vom Ende meiner Kindheit, weil mit Kriegsbeginn zum ersten Mal Dinge von außen bis in die Familie hinein wirksam wurden. Mein Onkel, der bei der polnischen Post war, fehlte auf einmal, er besuchte uns nicht mehr, wir spielten nicht mehr mit seinen Kindern. Dann hieß es, man habe ihn standrechtlich erschossen. Die kaschubische Verwandtschaft meiner Mutter, die vorher bei uns aus- und einging, war plötzlich nicht mehr gern gesehen.“

Nach der Grundschule wechselte Grass aufs Gymnasium, Reschke auf die Mittelschule. Die nächsten Jahre erleben beide ganz ähnlich: Die 15-jährigen Jungen werden noch in der Schule als Flakhelfer abkommandiert. Vormittags kommt der Lehrer in die Militärstellung und gibt Unterricht, nachmittags lernen die Buben, wie man Kanonen bedient und schießt. Wenig später müssen sie erst zum Arbeitsdienst und dann zur Wehrmacht. Reschke wird in die letzten Gefechte um Polen verwickelt, wird am Fuß verwundet und gerät in russische Gefangenschaft.

Grass meldet sich freiwillig zur Waffen-SS, was er lange verschwieg und erst im vorigen Jahr öffentlich gemacht hat. Ihm sei es darum gegangen, aus der Enge der Familie herauszukommen, sagt er zur Begründung.

Reschke, der nach Gefangenschaft und Vertreibung 1954 nach Geroldsgrün kam, war nicht mehr in seiner Heimatstadt. Von einem Freund, der in Bad Oldesloe wohnt, weiß er, wie es jetzt dort aussieht. Die Häuser seien renoviert, am Neuen Markt habe man Günter Grass ein Denkmal gesetzt: „Die Polen sind sehr stolz, dass der Nobelpreisträger aus Danzig stammt.“