Coburg - Sie war dann mal weg. Abgetaucht, sechs Jahre lang. Man sah Sabine Friedrich zuweilen, im Coburger Theater, auf dem Markt, im Garten, bei Freunden. Aber eigentlich war sie weit weg, in Berlin, in Ostelbien, in Wisconsin. Diskutierte im Geiste mit den Stauffenbergs, den Bonhoeffers, den Dohnanyis - Menschen, die Hitler die Stirn boten.

Was sind das für Leute, die ihr Leben riskieren, um den Wahnsinn zu stoppen? Woher nehmen sie den Mut, die Konsequenz, auch die Gewissheit? Und: Wie kommt das Gute in die Welt? Diese Fragen hatten Sabine Friedrich überwältigt, und sie tat, was Autoren in solchen Fällen tun: "Schreiben ist für mich die einzige Möglichkeit, mich wirklich in etwas hineinzuversetzen."

Das Hineinversetzen geriet alsbald außer Kontrolle: "Das Thema entwickelte seinen Sog. Es riss mich davon. Es war wunderbar!", erzählt die Coburger Schriftstellerin. Sie recherchierte, las, reiste, schrieb sich immer tiefer hinein in die Lebensgeschichten und die Seelen ihrer Helden. Sie nahm sich Auszeiten von der Familie, verschwand in Klausur, zog nach Berlin, folgte den Spuren nach Polen.

Immer wieder fand sie neue Mosaiksteine, immer wieder verfasste sie neue Varianten, ein Dutzend, mindestens. Und mehr als einmal nagte der Zweifel, ob diese Geschichte jemals ein Ende finden würde - und einen Verlag.

Sie fand: Am 1. Oktober 2012 erscheint bei dtv "Wer wir sind" - als Hardcover. Welche Erwartungen der Verlag in dieses Buch setzt, zeigt schon der aufwendig gestaltete Materialienband für Buchhandel und Presse. Und das zum Roman erscheinende Werkstattbuch: Auf 128 spannend zu lesenden Seiten erzählt es von einer literarischen Passion, von einem editorischen Abenteuer, von der Entstehung eines wirklich großen Buches: 2000 Seiten füllt "der Roman über den deutschen Widerstand" (so der Untertitel), und er scheint zum Ereignis des Bücherherbstes zu taugen.

"Atemlos verschlungen", "berührt und gefesselt", "ein unglaublich tolles Buch" notierten Brancheninsider, die den Text vorab lasen, auf ihren Response-Karten an den Verlag. "Restlos begeistert" von diesem "faszinierenden Porträt der Opposition gegen Hitler" äußerte sich der Historiker Prof. Manfred Görtemaker, ein Experte für Neue Geschichte. Besonders freut sich die Autorin über die durchwegs positiven, teils begeisterten Reaktionen von Nachkommen und Verwandten der Widerstandskämpfer.

Auf solche Furore hatte Sabine Friedrich nicht spekuliert, als sie vor sechs Jahren in die Materie eintauchte. Gerade hatte sie "Immerwahr" abgeschlossen, einen Prosatext und ein Theaterstück über Clara Immerwahr, Deutschlands erste Chemikerin. Clara, die darüber verzweifelte, dass ihr Ehemann Fritz Haber Kampfgas für das deutsche Kriegsministerium entwickelt: "Sie ist für mich ein Opfer, keine Heldin", erklärt Friedrich.

Deutschen Heldinnen wollte sie ihr nächstes Stück widmen: den Witwen der Widerstandskämpfer des 20. Juli. Doch das Thema zog Kreise: Die Schriftstellerin entdeckte die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Verflechtungen der beteiligten Familien, die Verbindungen zwischen Widerstands-Gruppen völlig unterschiedlicher Couleur, von der "Roten Kapelle" über kommunistische Zellen bis zur Weißen Rose und zum Kreisauer Kreis.

Die Legion der Fachbücher um ein weiteres zu bereichern, reizte die 53-Jährige nicht: Sie wollte die Helden als lebendige Menschen zeigen, in ihrem Glanz und ihrem Elend, in ihren Überzeugungen und ihren Irrtümern - und zum ersten Mal in der Gesamtschau ("Historiker interessieren sich meist nicht sehr für familiäre Verflechtungen"). Deshalb nahm sie sich die gestaltende Freiheit des Romanciers, der Fakten mit Fiktion anreichert: "Es ging darum, sie genau so wieder zu erfinden, wie sie gewesen sein mussten."

Und es ging ihr darum, sie aus den Geschichtsbüchern zu befreien, zu zeigen, was sie uns hinterlassen haben: "Gibt es ein Erbe, das wir antreten sollten? Gibt es Helden? Darf man große Worte machen? Lässt sich ein Wort wie Heimat heute noch unbefangen verwenden?" fragt die Schriftstellerin im Exposé, das sie für den Verlag verfasst hat.

"Nur" 1800 Seiten dick war das Manuskript, das Sabine Friedrich - die sich grundsätzlich ohne Vorverträge in die Arbeit stürzt - dem Deutschen Taschenbuch Verlag anbot, und das die Lektoren prompt in seinen Sog riss. "Seitdem habe ich sieben weitere Varianten geschrieben", verrät die Autorin, die bis zur letzten Sekunde an den Details feilte. Just am 20. Juli, dem Jahrestag des gescheiterten Hitler-Attentats, ging das Buch in Druck - "ein Zufall!", versichert Friedrich. Und fügt lächelnd hinzu: "Aber ganz schön spooky!".

Unverändert ließ sie über all die Jahre den Arbeitstitel des Romans: "Wer wir sind" steht für das Ziel, die Menschen hinter den historischen Akteuren aufzuspüren - und schlägt die Brücke ins Heute, zum Leser, zur Frage: Was hat der NS-Widerstand mit uns zu tun?

Eine Menge, meint Sabine Friedrich: "Mein Buch erzählt: Wir haben eine Wahl. Immer. Wir müssen nicht zu Tätern werden. Aber der Preis ist unter Umständen enorm".

Wir haben immer eine Wahl. Wir müssen nicht zu Tätern werden. Aber der Preis ist unter Umständen enorm.

Sabine Friedrich


Starrt nicht immer auf die Mörder! ... Stellt euch dem wirklichen Rätsel: Wie kommt das Gute in die Welt?

Sabine Friedrich


Die Autorin

Sabine Friedrich, 1958 in Coburg geboren, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte 1989 in München. Nach zahlreichen Wohnungs-, Orts- und Berufswechseln quer durchs In- und Ausland kehrte sie 1996 nach Coburg zurück, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Sie veröffentlichte bisher "Immerwahr" (als Schauspiel und als Roman, 2007); "Familiensilber" (2005), "Das Eis, das bricht" (2002), "Nachthaut" (2000), "Die wunderbare Imbißbude" (1999). "Das Puppenhaus" (1997). "Wer wir sind" erscheint Anfang Oktober bei dtv (Hardcover, 2032 Seiten, 29.90

ISBN 978-3-423-28003-7).

Parallel veröffentlicht dtv den Werkstattbericht (128 Seiten, 5,90 , ISBN 978-3-423-21403-2)