Coburg - „Um Gottes willen, du malst den Teufel an die Wand“, warnte empört die Gattin des Tonsetzers. „Ich kann wohl begreifen, dass man so furchtbare Texte komponiert, wenn man Kinder verloren hat. Schließlich hat auch Friedrich Rückert diese erschütternden Verse nicht fantasiert, sondern nach dem grausamsten Verlust seines Lebens niedergeschrieben“, sah Alma Mahler ein. „Ich kann aber nicht verstehen, dass man den Tod von Kindern besingt, wenn man sie eine halbe Stunde vorher heiter und gesund geherzt und geküsst hat. Die Kinder hießen Maria Anna und Anna Justine. Der Vater, der sie gerade in jenem Sommer 1904 so gern verzärtelte, war Gustav Mahler. Eine unbeschwerte Ferienzeit: In ihr vollendete er den einzigartigen Zyklus seiner fünf „Kindertotenlieder“, die seither zu den ergreifendsten Trauerbekundungen der Musikgeschichte zählen. Halb unwissend, halb ahnungsvoll schien der glückliche Papa eigenen grausamen Jammer vorwegzunehmen: Drei Jahre später erlag die vergötterte Maria Anna dem Scharlach.
Die „größte Totenklage der Weltliteratur“ hat Hans Wollschläger, der 2007 in Bamberg gestorbene Autor, Literaturexperte und Herausgeber, die Texte genannt, aus denen Mahler die Verse für seine Lieder wählte. In 446 Gedichten arbeitete sich Friedrich Rückert trostlos an seinem Schmerz ab. Um den Jahreswechsel 1833 auf 1834 starb zunächst vierjährig das einzige Töchterchen Luise, und der Dichter flehte: „Gott verschone uns mit mehr Leid!“ Indes erfüllte sich der Wunsch nicht – zwei Wochen später folgte dem Mädchen der fünfjährige Ernst. Rückerts Trauer kannte keine Grenze: „Nun will die Sonn’ so hell aufgehn, / Als sei kein Unglück die Nacht geschehn!“ Nach zehn Monaten schrieb er einem Freund: „Ich habe meine zwei liebsten und schönsten, jüngsten Kinder am Scharlachfieber verloren und nichts zum Troste dafür als eine unsägliche Masse von Todtenliedern.“ Daran, sie zu veröffentlichen, dachte er zunächst nicht. Als er sich dazu entschloss, erschien in Abständen nur ein kleiner Teil.
In Erlangen traf die Eltern jener schwerste Schicksalsschlag. Dort hatte die Universität 1826 Rückert den Lehrstuhl für orientalische Sprachen eingeräumt. Dem Ruf vorangegangen war zum einen seine Übertragung der „Verwandlungen des Ebu Said von Serug oder Die Makamen des Hariri“, eines Klassikers der arabischen Literatur; in der Fachwelt stieß sie als hoch- und gleichrangige „freie Nachbildung“ auf Bewunderung. Zum andern hatte sich Rückert schon 1811 in einer Disputation in Jena begeistert zur Kultur des alten Orients bekannt; nichts Geringeres als den Geist des alten Griechenlands, mithin letztlich des Abendlands sah er aus ihr keimen.
Dabei waren ihm derlei Gedankenreisen von deutsch-biedermeierlicher Enge in nah- und fernöstliche Gefilde nicht an der Wiege gesungen. Aus ländlicher Beschaulichkeit ging er hervor, lebenslang hing er ihr an, in ihr sollte er, am Sonntag vor 150 Jahren, in Neuses bei Coburg sterben. Im mainfränkischen Schweinfurt kam Friedrich Rückert am 16. Mai 1788 zur Welt, als Filius des späteren Dorfamtmanns von Oberlauringen und Spross einer alten, bäuerlichen Familie. Wie viel ihn an die paradiesisch-ländlichen Wurzeln band, legte er noch als reifer Mann 1829 in Kindheitserinnerungen nieder.
Zeitlebens drückte er sich zwar auch in Prosa aus; und wiederholt, wenngleich durchweg erfolglos, versuchte er sich sogar an Arbeiten fürs Theater. Doch blieb die ihm gemäße Form die „gebundene“ der Lyrik. Im Ton einer volkstümlichen, von der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ inspirierten Romantik besang er die Liebe und die Geliebten: eine Agnes seiner Jugendjahre, die allzu früh und plötzlich sterben musste; ein Wirtstöchterlein, das ihn nicht erhörte; endlich seine Coburger Verlobte und Frau Anna Luise, die ihm zehn Kinder, darunter die beiden so schmerzhaft an den Tod verlorenen, schenkte. Als „entsetzliche Zeit“ nahm er die Periode der Restauration nach Napoleons Untergang wahr; in vielen seiner Arbeiten beanstandete er den auch das feudalistische Herrschaftssystem in den deutschen Ländern und die Zerrissenheit zwischen ihnen. Doch der „Liebesfrühling“, der das Brautpaar in Coburg besonnte, erblühte in 300 euphorischen Gedichten Rückerts. Großer Beliebtheit erfreuten sich solche empfindsamen Verse einst beim Publikum.
Dass der Dichter allerdings aus jedem Anlass und schier über jede leise Regung seines Geistes und Gemüts unablässig Schriftliches entäußerte, bekam seinem Œuvre, aufs Ganze gesehen, qualitativ nicht. Zwar rühmte ihn die Kritik im 19. Jahrhundert für „Gedankenreichtum“, „unvergleichliche Sprachgewalt“ und das „Vermögen, in großen und kleinen Dingen dieser Welt die lebendige Idee zu schauen“. Doch leugneten schon die Zeitgenossen nicht, „dass uns unter der fast unübersehbaren Menge seiner kleinern und größern Gedichte vieles begegnet, dem höhere Bedeutung mangelt“, sodass „die schwächern seiner Erzeugnisse als mehr oder weniger inhaltsarme Sprachspielereien erscheinen“. Friedrich Hebbel bescheinigte ihm schlichtweg „Mittelmäßigkeit“, und selbst der 1945 gestorbene, „enzyklopädische Dichter“ Rudolf Borchert, der mit Rückerts Liebeslyrik sympathisierte, erkannte später: „Nicht beschränkt worden zu sein, war sein Zeitverhängnis, und diese Schrankenlosigkeit ist nicht nur eine solche der Formate, sondern auch der Affekte.“
Erst in jüngster Zeit, namentlich durch die historisch-kritische Ausgabe des Gesamtwerks unter anderem durch Hans Wollschläger, wenden sich Germanisten und Autoren wieder der ozeanischen Produktion des Nimmermüden voll wachsenden Interesses zu. Immerhin stand seine Rolle als Vermittler islamischer, indischer, hebräischer Poesie niemals infrage. Drei Umstände wirkten dafür zusammen. Zum einen die exorbitante Sprachbegabung: Angeblich in fast fünfzig Zungen drückte oder kannte Rückert sich aus, in den klassischen alten und den geläufigen europäischen Sprachen ohnehin, doch ebenso im Kurdischen, Berberischen, Altindischen... „Mir lebt jede Sprache, die Menschen schreiben“, sagte er von sich.
Zum andern lag die Neigung zu orientalischen Stoffen und Koloriten in der literarischen Luft. Schon durch die Kreuzzüge und Türkenkriege hatten die Kulturen sich ost-westlich ausgetauscht. In den 1780er-Jahren übersetzte Johann Heinrich Voss die Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“. Mit dem „West-östlichen Divan“ adelte Johann Wolfgang von Goethe ab 1819 jenen Aspekt des Zeitgeists mit dem Tiefsinn seines Alterswerks. Schließlich begegnete Rückert, von einer – ihn wenig beeindruckenden – Italienreise heimkehrend, in Wien dem österreichischen Orientalistik-Pionier Joseph von Hammer-Purgstall, von dem er sich ins Persische einweisen ließ.
Band für Band erschienen seine Übersetzungen, Neudichtungen und Nacherzählungen: die Prophetenbücher des Alten Testaments ebenso wie Teile des Korans, orientalische Sagen, Heldengeschichten und Eulenspiegeleien, chinesische Lieder und arabische Volksweisen, „Erbauliches und Beschauliches aus dem Morgenland“, „Brahmanische Erzählungen“ indischer Provenienz. Zwischen Fremden und Eigenem (wie den „Östlichen Rosen“ von 1822) verläuft die Grenze fließend, auch in seinem Hauptwerk, den sechs, von 1836 bis 1839 erschienenen Bänden, worin er in Versen, Erzählungen und Betrachtungen „Die Weisheit der Brahmanen“ ausbreitet. Als Erster unter den deutschen Lyrikern wählte Rückert das Form- und Reimschema des uralten persischen Ghasels für eigene Verse.
Nur eine kurze Station in seinem Leben markierte das ungeliebte Berlin, an dessen Universität er nicht Fuß fasste und wo er, so weit möglich, durch Abwesenheit glänzte. Viel lieber hielt er sich bei der Familie in seinem Gut in Neuses auf, das er 1838 von der Schwiegermutter übernommen hatte. Dorthin zog er sich zehn Jahre später als Rentier von allen öffentlichen Aufgaben zurück. Unter seinen Besuchern: der treue Freund Felix Dahn, Verfasser von „Ein Kampf um Rom“, eines frühen Bestsellers; „hühnenhaft mit mächtigem Haupt“ traf er den Gastgeber an; „voll langer, weißgrauer Haare wandelte er durch das Rosenbeet des Familiengutes, an einem seiner zehntausend Gedichte und Verse sinnend“.
Zu jenen Strophen gehörte 1863 das „Dutzend Kampflieder“, mit denen er sich, als beharrlicher Parteigänger der deutschen Einigungsbewegung, zum heraufziehenden Deutsch-dänischen Krieg äußerte. Schon einmal, fast ein halbes Jahrhundert zuvor, hatte er als politischer Lyriker vielgehört die Stimme erhoben: Weil ihm seine labile Gesundheit die ersehnte Teilnahme am Krieg gegen Napoleon verbot, schleuderte er dem sich geschlagen zurückziehenden Franzosenkaiser 1815 „Deutsche Glimpf- und Schimpflieder“, darunter sage und schreibe 74 „Geharnischte Sonette“ hinterher. Nun sah er die Zeit gekommen, dass aus den vielen Nationalliteraturen eine „Weltpoesie“ erwachse.
Ein unersetzlicher Verlust hat auch Rückerts letzte Jahre im Neuseser Idyll verschattet. 1867 starb Anna Luise, seine Frau, und ließ ihn, vollständig vereinsamend, zurück. Nie war er über den Verlust der beiden Kinder hinweggekommen: „Das Böse ist nicht aus der Welt hinauszulügen“, wusste er und rang hart darum, trotzdem an die wohlmeinende Allmacht eines gerechten Gottes zu glauben. Dem Tod, den ihm eine Krebserkrankung brachte, fühlte er sich, schon bevor er starb, recht nah. Im Jenseits die geliebte Frau wiederzusehen, ersehnte er, und die toten Kinder: „Sie sind uns nur vorausgegangen.“

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