Auch die Schweizer Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello hat viel zu familiären Beziehungen geforscht. Sie sagt: „Die Beziehung zu den Eltern ist nicht einfach gegeben, sie muss im Laufe des Lebens immer wieder neu definiert werden. Damit das gelingt, müssen beide Seiten alte Rollen loslassen können und bereit sein, neue einzunehmen.“
Das klappe nicht ohne klärende Gespräche und manchmal auch Streit. „Besteht eine tiefe Verbundenheit, ist aber auch die Motivation, Differenzen auszuhandeln, groß. Ist diese nicht vorhanden, so sind Konflikte oder gar Brüche programmiert“, sagt Perrig-Chiello.
Als Martina Schäfer das erste Mal nach vielen Jahren wieder gemeinsam mit ihren Eltern in den Urlaub fuhr, hatte sie keine Angst vor solchen Konflikten. „Ich bin auch während meiner Studienzeit noch lange mit meinen Eltern verreist. Schon damals haben wir geklärt, dass jeder da auch seine Freiräume braucht.“ Das bedeutete: An manchen Tagen gab es nur ein gemeinsames Frühstück und jeder machte dann sein eigenes Programm, an anderen Tagen entschieden sie sich für einen Familienausflug.
„Vermutlich haben wir schon damals die Grundlage dafür gelegt, dass ein gemeinsames Verreisen auch im Alter gut funktionieren kann“, sagt Martina Schäfer. Ihr Tipp: Erwartungen an die gemeinsamen Tage vorab klären und ein Ziel aussuchen, dass allen gut passt. „Das waren bei uns sowohl Orte, die wir von früher schon kannten, als auch neue Dinge, die wir noch zusammen erleben wollten.“
Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses
Ob die Mutter nach dem Tod des Vaters weiter Lust hat, mit ihr zu verreisen, weiß Martina Schäfer noch nicht. Freuen würde sie sich. Ihr ist aber auch klar, dass sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihrer Mutter und ihr in den nächsten Jahren weiter verändern wird. „Schon heute ist sie nicht mehr so gut zu Fuß, statt Wandern sind inzwischen eher Autoausflüge angesagt.“
„Die Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses im höheren Alter ist eine Herausforderung und wird von vielen als krisenhaft empfunden“, sagt Perrig-Chiello. Die Fachliteratur spricht von „filialer Krise“, wenn in höherem Alter irgendwann viele ausgesprochene und unausgesprochene Hilfs- und Unterstützungsangebote das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern belasten.
„Es ist für unsere Zeit ja auch neu, dass die Kinder oft selbst schon im Rentenalter sind, wenn sie ihre alten Eltern erleben. Sie sehen dabei aus nächster Nähe, was Altwerden bedeutet, und das kann belasten“, sagt Psychologin Otto.
Hilfe aus der Familie ist keine Selbstverständlichkeit
Zumal jemand mit 60 Jahren oft schon nicht mehr in der Lage ist, seine 85-jährigen Eltern zu pflegen. „Das Ideal, dass die Kinder das alles gern und zugewandt leisten können, das ist nicht mehr durchhaltbar, wenn die Eltern so alt werden“, sagt Otto. Es sei deshalb wichtig, dies rechtzeitig offen und ehrlich anzusprechen.
Wer das nicht macht, rutscht Perrig-Chiello zufolge häufig aus Pflichtgefühl in eine festgefahrene Rolle des Pflegenden hinein, für den die Kinder einen hohen Preis in körperlicher, psychischer und sozialer Hinsicht zahlen. „Hilfe aus der Familie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss im Dialog ausgehandelt werden, ohne Schuldgefühle. Sich kümmern bedeutet nicht nur direkte Hilfe. Auch Hilfe organisieren oder einfach da sein, ist kümmern“, sagt Perrig Chiello.
Tipps für einen entspannten Umgang
Kinder und Eltern
Akzeptieren, dass Eltern wie Kinder so sind, wie sie sind – und dass man sich diese nicht aussuchen kann. „Und man sollte auch nicht versuchen, sie ändern zu wollen“, sagt Sascha Schmidt, Autor des Buchs „Melde dich mal wieder. Wenn erwachsene Kinder ihre Eltern meiden“ (Humboldt-Verlag, 19,99 Euro).
Machtverhältnis Akzeptieren, dass die Beziehung nie eine Freundschaft auf Augenhöhe sein kann, sondern immer ein Machtverhältnis zugunsten der Eltern. Das liegt an der extremen Abhängigkeit der Kinder in den ersten Lebensjahren. „Man kann deshalb keinen gleichberechtigten Umgang miteinander haben, sehr wohl aber einen gleichwertigen“, sagt Familienberater Sascha Schmidt. Das bedeutet beispielsweise, dass beide das gleiche Recht haben, Emotionen zu zeigen und Argumente auszutauschen. „Kinder haben das Recht, Weihnachten nicht nach Hause zu kommen, und Eltern haben das Recht, das dann blöd zu finden“, nennt Sascha Schmidt ein Beispiel.
Die Verantwortung für die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung haben Sascha Schmidt zufolge maßgeblich die Eltern – „und zwar egal von welchem Alter man redet“. Denn die Eltern sind es, die diese Beziehung in den ersten Lebensjahren aufgebaut haben. Und die Eltern behalten innerhalb der Beziehung auch immer die dominierende Rolle, weil die Kinder eben früher von ihnen abhängig waren. „Wenn ich in den ersten Lebensjahren mit dem Kind keine gute Bindung aufgebaut habe, kann sie später auch nicht erwarten“, sagt Familienberater Sascha Schmidt.
Selbstständigkeit Ein erwachsener Umgang zwischen Eltern und Kindern ist nur möglich, wenn es nicht zu viele Abhängigkeiten gibt und beide ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen. Und wenn man ehrlich miteinander umgeht, statt nicht ans Telefon zu gehen oder sich mit Ausreden um einen Besuch zu drücken. „Man muss offen ansprechen, wie viel Umgang einem guttut und wo die Grenzen sind“, sagt Sascha Schmidt. Auch hängt die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung nicht von der geografischen Nähe ab. Nur weil man plötzlich nebeneinander wohnt, ist das gute Verhältnis kein Selbstläufer. „Das Verhältnis kann sogar inniger sein, wenn die Kinder in Australien leben, wenn eine entsprechende Bindung zugrunde liegt“, sagt Sascha Schmidt. (mar)