Verbrechen im Mittelalter Interaktive Mord-Karte aus England

Markus Brauer

Oxford war im Mittelalter eine Hochburg des Verbrechens. Nirgendwo sonst in England wurde so viel gemordet wie in der berühmten Universitätsstadt. Ein interaktiver Mordatlas enthüllt jetzt hunderte Mordfälle. Eine kriminologisch-historische Spurensuche.

 
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Pogrome, Morde und Totschlag waren in vielen mittelalterlichen Städten an der Tagesordnung. Die Universitätsstadt Oxford sticht dabei besonders negativ hervor (Zeichnung von circa 1920). Foto: Imago/Heritage Images

University of Oxford? Eldorado der Wissenschaft, Hotspot der Spitzenforschung und – neben Cambridge – Vorzeige-Hochschule Englands. Wer denkt bei so viele Geistesgröße und Gehirnschmalz schon an Mord und Totschlag, Gewaltorgien und brutale Schlägereien? Doch all diese kriminellen Seiten der menschlichen Natur hat es auch in Oxford gegeben – und das zuhauf.

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Mittelalterliche Hochburg des Verbrechens

Das Gebäude der Bodleian Library, der Hauptbibliothek der University of Oxford. Foto: Imago/Rolf Poss

Im späten Mittelalter war die Stadt in der südenglischen Grafschaft Oxfordshire eine Hochburg des Verbrechens, wie Forscher der englischen University of Cambridge festgestellt haben. Im 14. Jahrhundert lag die Mordrate in Oxford pro Kopf vier- bis fünfmal höher als in anderen vergleichbaren englischen Städten wie London oder York.

Das lag vor allem an den damaligen Studenten, wie die Wissenschaftler in einer im Fachblatt „Science Alert“ veröffentlichten Studie berichten. Neu übersetzte Gerichtsdokumente enthüllen, dass rund drei Viertel der darin aufgeführten Mörder als „clericus“ bezeichnet werden. In den Aufzeichnungen von Gerichtsmedizinern aus dem 14. Jahrhundert wurden solche Todesfälle untersucht und dokumentiert.

Bericht eines Londoner Leichenbeschauers aus dem Jahr 1315/1316, in dem der Todesfall eines Hervey de Playford geschildert wird. Foto: © University of Cambri/dge

Studenten bekriegten sich bis aufs Blut

The Divinity School der University of in Oxford. Foto: Imago/Heritage Images

Der Begriff „clericus“ wurde im Mittelalter üblicherweise für Studierende oder Mitglieder der 1096 gegründeten Universität – der ältesten in der englischsprachigen Welt – verwendet. Die Studiosi mordeten offenbar mit Vorliebe Mitstudenten der eigenen Hochschule. Rund 72 Prozent der Opfer wurden der Studie zufolge ebenfalls als „clericus“ eingestuft.

Demnach lag die Mordrate in Oxford damals bei 60 bis 75 Fällen pro 100 000 Einwohner. Das ist 50-Mal höher als in heutigen Großstädten Englands und fünfmal höher als im mittelalterlichen London.

„Mediavial Murder Map“: ein interaktiver Mordatlas

Herausgefunden hat diese historische Entdeckung ausgerechnet die akademische Konkurrenz aus Cambridge. Manuel Eisner, Direktor des Instituts für Kriminologie in Cambridge, und sein Team haben ihre Daten in dem interaktiven Mordatlas „Medieval Murder Map“ zusammengetragenund publiziert.

Neben Oxford („The capital of learning“) finden sich auch London („The dazzling metropolis“) und York („The northern trading capital“) als mittelalterliche Mord-Kommunen in dem Mord-Atlas.

Was waren die Ursachen für die studentische Mordlust?

Mord in einer mittelalterlichen Buchmalerei: Wie oft Mord und Totschlag im Mittelalter in London, Oxford und York vorkamen und wer dabei wen tötete, zeigt die interaktive „Medieval Murder Map“. Foto: © University of Cambrid/ge

„In einer mittelalterlichen Universitätsstadt wie Oxford herrschte eine tödliche Mischung von Bedingungen“, erklärt Kriminologe Eisner.„Die Oxford-Studenten waren alle männlich und in der Regel zwischen vierzehn und einundzwanzig Jahre alt, dem Höhepunkt der Gewalt- und Risikobereitschaft. Es waren junge Männer, die von der strengen Kontrolle der Familie, der Gemeinde oder der Zunft befreit waren und in ein Umfeld kamen, das voll von Bier, Prostituierten und Waffen war.“

Inzwischen hat sich die kriminelle Großwetterlage in Oxford deutlich beruhigt. Die rund 150 000-Einwohner-Stadt liegt im Mittelfeld der britischen Kriminalitätsstatistik. Auf 1000 Einwohner kommen im Schnitt 104 Verbrechen. Besonders beliebt ist im Jahr 912 urkundlich erstmals erwähnte Gemeinde bei Fahrraddieben: Im Oktober 2022 wurden laut „Crime Rate“ 73 Fahrraddiebstähle gemeldet - die höchste Zahl in Oxfordshire.

Raufbolde und Mordgesellen en masse

Unterrichtsszene an einer mittelalterlichen Universität Foto: Imago/Ancient Art & Architecture

Bekanntlich war man im Mittelalter nicht gerade zimperlich. Bei Raufbolden und Mordgesellen denkt man gewöhnlich an Straßenräuber und Raubritter. Konflikte wurden oft mit Waffen ausgetragen, Fehden zwischen verschiedenen Gruppen endeten nicht selten in tödlicher Gewalt. „Messer waren in der mittelalterlichen Gesellschaft allgegenwärtig“, erläutert die Historikerin Stephanie Brown von der University of Cambridge.

Fast jeder besaß ein Messer, das beim Essen und für andere alltägliche Zwecke verwendet wurde. „Viele Männer trugen zudem Stöcke und Äxte gab es in den Haushalten zum Holzhacken.“ Bei solch massenhafter Verbreitung von potenziellen Mordwerkzeugen war es kein Wunder, dass Gewalt in den Straßen des Mittelalters an der Tagesordnung war.

Wie Gerichtsverfahren im mittelalterlichen England abliefen

Detailausschnitt aus der mittelalterlichen Mordkarte für Oxford. Foto: © University of Cambri/dge

Auf Grundlage der rund 700 Jahre alten Gerichtsakten haben die Forscher rekonstruiert, wie häufig Morde und andere Gewalttaten in den drei größten Städten des mittelalterlichen Englands vorkamen. Das Ergebnis präsentieren sie in ihrer faszinierenden interaktiven „Murder Map“.

„Wenn im spätmittelalterlichen England ein mutmaßliches Mordopfer gefunden wurde, wurde der Leichenbeschauer gerufen“, erläutert Manuel Eisner. War der Verdacht auf eine Gewalttat begründet, untersuchte eine Jury den Fall. „Ihre Aufgabe war es dann, durch Anhörung von Zeugen den Hergang der Ereignisse zu rekonstruieren, Beweise zu sammeln und dann einen Verdächtigen zu benennen. Die Anklagen wurden vom Schreiber des Leichenbeschauers aufgezeichnet.“

354 mittelalterliche Morde untersucht

Die Historiker haben insgesamt 354 Morde in London, Oxford und York untersucht und auf dieser Datenbasis den Mord-Atlas erstellt. In der interaktiven Darstellung kann man per Mausklick zu jedem Mordfall die entsprechende historische „Fallakte“ einsehen, die den Tathergang, die Begleitumstände und den oder die Täter genauer beschreibt. Zusätzlich sind ausgesuchte Mordfälle in Audiofiles nachzuverfolgen.

Doch warum ausgerechnet Oxford?

Das berühmte All Souls College der University of Oxford. Foto: Imago//Christian Offenberg

„Eine mittelalterliche Universitätsstadt wie Oxford schuf eine tödliche Mischung von Bedingungen“, schreiben die Autoren. Als Studenten hatten die jungen Männer plötzlich weit mehr Freiheiten als zuvor: „Sie waren von der strikten Kontrolle ihrer Familien, Kirchengemeinden und Gilden befreit und gerieten nun in ein Umfeld voller Waffen und leichtem Zugang zu Wirtshäusern und Prostituierten.“

So lief ein typisches Verbrechen unter Studenten ab

Wie ein harmloser Streit in eine blutige Auseinanderandersetzung ausartete, lässt sich an folgendem Beispielfall zeigen: Es ist Dienstagnacht in einer Taverne in der Oxford High Street. Ein Streit unter Studenten, die in der Kneipe hocken, läuft komplett aus dem Ruder und eskaliert zu einer Straßenschlacht, die mit Schwertern und Äxten ausgetragen wird. 

In einem anderen von den mittelalterlichen Leichenbeschauern dokumentierten Fall kam es zu einem Konflikt rivalisierender Studentenverbindungen: Im Frühjahr 1303 wird der „clericus“ Adam de Sarum auf offener Straße von drei irischen Studenten überfallen und durch Messerstiche in Hals und Kopf getötet. Das Attentat war wohl ein Racheakt, weil kurz zuvor zwei Studenten aus Wales andere Kommilitonen attackiert hatten. Ein Unbeteiligter wurde dabei zu Tode geprügelt.

„Das Leben in den mittelalterlichen Ballungsräumen war rau, aber keineswegs gesetzlos“, resümiert Kriminologe Eisner. „Die Menschen kannten ihre Rechte und beriefen sich auf das Gesetz, wenn es Konflikte gab. Allerdings kam dies für viele zu spät.“