Länderspiegel Ziemlich krass

Marco Hadem, Jürgen Umlauft, Christoph Trost
Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender Markus Söder ist sich sicher: Der Kampf gegen Corona ist noch lange nicht gewonnen. Foto: Sven Hoppe/dpa Quelle: Unbekannt

Beim virtuellen Parteitag zitiert CSU-Chef aus einigen Hass-Zuschriften, die er erhalten hat. Und er bekräftigt: Der Kampf gegen Corona geht weiter.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

München - Markus Söders Rede auf dem virtuellen Parteitag der CSU läuft schon eine halbe Stunde, da wird der CSU-Chef an seinem Schreibtisch im Franz-Josef-Strauß-Haus auf einmal persönlich, sehr persönlich. Er hatte die Zeit bis dahin genutzt, noch einmal eindringlich vor den Gefahren des Coronavirus zu warnen, hat an die Vernunft und den Durchhaltewillen der Bürger appelliert und eine - mit Ausnahme weniger selbstkritischer Anmerkungen - positive Bilanz seiner Krisenpolitik gezogen. Es wirkte wie ein Corona-Lehrvortrag mit Dr. Söder, ein Best-of aus seinen Pressekonferenzen der vergangenen Monate.

Beschlüsse des Parteitags

In einem oft nur schwer nachvollziehbaren Tempo hat der CSU-Parteitag am Samstag in rund dreieinhalb Stunden eine Masse von Anträgen angenommen oder abgelehnt. Ein Überblick:

Der Kampf gegen den Kindesmissbrauch soll verstärkt werden. Dazu fordert die CSU unter anderem die Wiedereinführung der derzeit ausgesetzten Speicherung von Verkehrsdaten im Internet. Der Antrag sieht auch höhere Strafen vor, bis hin zu lebenslänglich. Erzieher und Lehrer sollen besser geschult werden, um Missbrauch zu erkennen.

In Supermärkten soll es nach dem Willen der CSU künftig eine Verpflichtung für Kundentoiletten geben. Bei Altbauten sollten Kunden zumindest einen Rechtsanspruch

erhalten, in Notsituationen auch

die Personaltoilette benutzen zu

dürfen. Die CSU-Fraktion im Landtag soll dazu die Bauordnung ändern.

In Schulen soll die Digitalisierung weiter vorangetrieben werden. Die verschiedenen beschlossenen Anträge fordern unter anderem eine zentrale Bayern-Cloud, eine Schul-Videoplattform, ein eigenes Schul-Rechenzentrum, zusätzliche digitale Leihgeräte für Schüler und Lehrer, neue IT-Systemadministratoren und neue Stellen für die Aus- und Fortbildung von Lehrern. Die CSU sprach sich auch für eine vollständige Digitalisierung aller Schulbücher aus.

Sowohl im Bundestag als auch im bayerischen Landtag sollen die Abgeordneten nun prüfen, ob eine geschlechtersensible Sprache Nachteile für das Verständnis hat. Der Parteitag bestätigt damit auch seine ablehnende Haltung gegenüber immer beliebter werdenden sprachlichen Veränderungen wie Binnen-I und Gendersternchen. dpa


Jetzt aber zieht Söder ein paar Blätter aus seiner Mappe. Es sind Zuschriften von Menschen, die wohl - um es neutral auszudrücken - mit seinen Corona-Maßnahmen nicht einverstanden sind. Menschen, die rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich scheinen, deren Weltbild aus Hass, Hetze und Verschwörung besteht. Er habe sich lange überlegt, ob er diese Pamphlete öffentlich mache, habe sich dann aber dafür entschieden, "weil ich glaube, dass da eine größere Gefahr dahintersteckt, als man denkt".

Scheinbar ungerührt liest Söder vor, welche wüsten Tötungsfan-
tasien da mancher auf ihn projiziert, von übelsten, auch rassistischen Beleidigungen und Schmähungen ganz abgesehen. "Sie werden den morgigen Tag nicht mehr erleben", liest Söder vor. "Ich werde Sie erschießen, in Scheibchen schneiden und Tigern zum Fraß vorwerfen." Oder: "Dieser größenwahnsinnige Psychopath muss unbedingt schnellstmöglich am nächsten Baum aufgehängt werden." Noch einige weitere Zuschriften, eine kruder als die andere, liest er vor. "Schon ziemlich krass, oder?", beendet Söder diese gruselige Sequenz. Kein Spaß sei das, schon gar, wenn man selber betroffen sei. Er wolle aber trotz der Anfeindungen Linie halten, schließlich würden alle Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen getroffen. "Mein Leitmaßstab heißt Vernunft statt Verschwörung", betont er abschließend. Dann fährt er in seinem Vortrag fort, kommt aber nur zwei Sätze weit. "Sorry, ich muss nochmal durchschnaufen, weil das ehrlicherweise eine ziemlich harte Geschichte ist, die einen schon bewegt, und nicht jeder ist so stabil", bittet er um einen Moment Geduld. Und dann macht er etwas, was dieser bewegenden Szene auf den ersten Blick die Eindringlichkeit nimmt, sie als billige Inszenierung erscheinen lässt. Söder greift nach der Thermoskanne neben sich und gießt Tee in die dekorativ vor ihm stehende Tasse. Schwarz ist sie, "Winter Is Coming" ist aufgedruckt, ein Motiv seiner Lieblingsserie "Game of Thrones". Durch die heiße Flüssigkeit verfärbt sie sich schneeweiß, der Schriftzug wechselt in "Winter Is Here". Toller Effekt, der aber an dieser Stelle etwas unpassend wirkt. Oder will Söder damit subtil sichtbar machen, dass das Böse, das Kalte jetzt da ist? Man weiß es nicht. Aus Söders Team heißt es hinterher, er habe gar nicht gewusst, dass sich die Tasse verfärben könne.

Die Sache mit der Tasse ist so etwas wie der Running Gag bei Söders virtuellen Parteitagsreden. Im April bei der ersten Auflage sorgte er mit einer Stars-Wars-Tasse für internationale Aufmerksamkeit, jetzt also die coole Chamäleon-Tasse. In der Parteizentrale laufen noch während Söders Vortrag die Anfragen ein, wo man das Teil denn kaufen könne. Generalsekretär Markus Blume löst das Rätsel am Ende des Parteitags: Momentan gar nicht! Derzeit nicht lieferbar!

In Söders fast einstündiger Rede geht es - natürlich - in weiten Teilen um den Kampf gegen Corona. Botschaft eins des Parteitages, und das ist ja Söders zentrale Warnung seit Wochen angesichts der wieder steigenden Corona-Zahlen: Der Winter kommt - mit all den damit verbundenen Gefahren und drohenden Rückschlägen im Kampf gegen das Virus. Botschaft zwei: Das Land müsse zusammenstehen, um in dieser "Naturkatastrophe" zu obsiegen. Und: Dabei müsse man Verschwörungstheoretikern und Neonazis gemeinsam die Stirn bieten. In dem Zusammenhang kündigt er an, die Reichskriegsflagge, die zuletzt oft auf Corona-Kundgebungen geschwenkt wurde, in Bayern zu verbieten.

Söder will die breite Öffentlichkeit, aber offenbar auch noch manche Zweifler in seiner Partei, einschwören auf einen noch langen Kampf. "Corona ist mit voller Wucht, aller Macht wieder da, in ganz Europa", warnt er. "Die zweite Welle läuft." Man solle aber nicht ängstlich und kopflos sein, sondern besorgt - und dennoch optimistisch.

Neben Corona hat Söder noch ein zweites Hauptthema: Er versichert, man werde auch den Kampf gegen den Klimawandel nicht vernachlässigen - im Gegenteil. Der Höhepunkt: Einerseits erneuert Söder die Forderung nach Kaufprämien oder Ähnlichem für moderne Verbrenner. Andererseits aber spricht sich der CSU-Chef überraschend für ein Zulassungsverbot für fossile Verbrennungsmotoren ab 2035 wie in Kalifornien aus: Er sei auch für ein solches "Enddatum". Das hatte Söder im Jahr 2007, als Generalsekretär, schon einmal für 2020 gefordert. Aber als Partei- und Regierungschef hat die Forderung nun ungleich mehr Gewicht (dazu auch untenstehender Artikel).

Eine Aussprache zu Söders Rede, wie auf Präsenzparteitagen üblich, findet nicht statt. Dabei sind manche seiner Entscheidungen im Corona-Management auch parteiintern nicht unumstritten. So aber kommt ein virtuelles Friede, Freude, Eierkuchen aus dem "Studio 1" der CSU-Parteizentrale bei Delegierten und Zuschauern "draußen an den Endgeräten" an, wie Blume zur Übertragungstechnik sagt. Die bekommen immerhin noch einen besonderen Gruß Söders an die Schwesterpartei CDU zu hören.

Es geht um die Kanzlerkandidatur, für die die CDU natürlich das Vorschlagsrecht habe. "Das ist bitte aber nicht so zu interpretieren, als ob die CSU nur abnicken müsste", schiebt Söder hinterher. Die Nominierung gehe nur gemeinsam. Und damit es auch wirklich jeder versteht, sagt Söder noch: "Keiner kann in Deutschland gewinnen ohne die Stimmen aus Bayern und ohne die Zustimmung der CSU - das sollte sich jeder immer vergegenwärtigen!" An dieser Stelle wäre bei einem Präsenzparteitag wahrscheinlich tosender Beifall aufgebrandet. Aber auch fürs Virtuelle hat sich die Regie dieses Mal etwas einfallen lassen. Statt Klatschen aus der Konserve hat sie einen "Gefällt mir"-Button eingerichtet. Je mehr Delegierte an den Endgeräten den anklicken, desto mehr hochgereckte Daumen ploppen auf den Bildschirmen auf. Einen "Dislike"-Knopf sucht man übrigens vergebens.

Bilder